nd.DieWoche

Die Praxis der Kritischen Theorie

Die Studie »Der nonkonform­istische Intellektu­elle« ist nach knapp 25 Jahren neu aufgelegt – und wurde in Frankfurt mit deren Autor Alex Demirović aktuell diskutiert

- LUKAS GEISLER

Mit 20 Minuten Verspätung beginnt die Buchvorste­llung im mittlerwei­le überfüllte­n Café KoZ auf dem ehemaligen Campus Bockenheim der Universitä­t in Frankfurt am Main. 100 Menschen sind gekommen, um der Vorstellun­g von Alex Demirović’ Buch »Der nonkonform­istische Intellektu­elle« beizuwohne­n, das ihn, wie er sagt, »zwölf Jahre meines Lebens gekostet hat«. Stephan Lessenich, Direktor des Instituts für Sozialfors­chung (IfS), und Christina Engelmann, die an einer aktuellen Studie zu feministis­chen Perspektiv­en auf die Geschichte des IfS mitgearbei­tet hat, diskutiere­n die neu aufgelegte Studie zur Erneuerung des marxistisc­hen Denkens durch die Kritische Theorie im Nachkriegs­deutschlan­d.

Erziehung der Jugend

Das Studierend­enhaus, in dem die Buchvorste­llung stattfand, wurde vor 71 Jahren von Max Horkheimer, damals Rektor der Frankfurte­r Universitä­t, persönlich eröffnet und mitsamt dem besagten Café KoZ unter studentisc­he Selbstverw­altung gestellt. Es erschien ihm, wie er es in der Eröffnungs­rede 1953 sagte, »nicht nur wie Verwirklic­hung eines Traumes, sondern eben damit wie ein Verspreche­n, dass noch ein weit kühnerer in Erfüllung geht«. Damit verwies er auch auf die generelle Not der Studierend­en zu dieser Zeit – die meisten Gebäude der Universitä­t waren zerstört und Studierend­e mussten sich an deren Aufbau beteiligen. Das Studierend­enhaus sollte der Ort für die »Entfaltung produktive­r Fantasie« werden. Horkheimer prognostiz­ierte: »die Wirkung dieser Zelle wird sich aufs Ganze der Universitä­t und weiterhin erstrecken, es wird ihr Zentrum werden«. Wie Demirović in seiner Studie zur älteren Kritischen Theorie herausarbe­itet, sollte das Studierend­enhaus zur Demokratis­ierung und Erziehung der akademisch­en Jugend weit über die Wissenscha­ft hinaus beitragen.

Die Redepraxis Horkheimer­s sei daher eine »spezifisch­e diskursive Interventi­on«, erklärte Demirović, deren besonderes Profil er im Kontrast zu anderen universitä­ren Reden jener Zeit herausgear­beitet hat. In diesen Reden von Horkheimer und Theodor W. Adorno würden die theoretisc­hen Grundpfeil­er der Kritischen Theorie deutlich: Studierend­e sollten »nicht wandern gehen und dem Dudeln des Radios, das dumm mache, verfallen«, sondern es wurde an eine tätige Studierend­enschaft appelliert, die »eine wahrheitso­rientierte Lebensführ­ung praktizier­t und auf die rationale Umgestaltu­ng der gegenwärti­gen Gesellscha­ft und ihrer Alltagspra­ktiken zielt«.

Pfeifend durchs Institut

Adornos und Horkheimer­s Sorge um Nachwuchs sei zu Beginn ihrer Rückkehr aus dem amerikanis­chen Exil groß gewesen. Die allergrößt­e Befürchtun­g, dass die Studierend­en deutschnat­ional oder nationalso­zialistisc­h eingestell­t wären, habe sich aber bald als unbegründe­t herausgest­ellt – auch wenn, wie Demirović ausführte, »die meisten Dozierende­n waschechte Nazis waren«. Zudem seien Horkheimer und Adorno von der Universitä­tsleitung als »reiche marxistisc­he Juden« gesehen worden. Ihr theoretisc­hes Schaffen habe bei ihrer Rückkehr niemand gekannt.

Warum sich Horkheimer und Adorno, die sich all dem bewusst waren, in dieser von antisemiti­schen und rassistisc­hen Kontinuitä­ten geprägten Nachkriegs­situation zur Rückkehr entschiede­n, versuchte Demirović in seiner Studie und an diesem Abend deutlich zu machen. Die umfangreic­he Studie entstand, wie er sagte, »in detailverl­iebter Archivarbe­it – ganz im Sinne

von Michel Foucault«. Zu Beginn seiner Arbeit habe Demirović nicht viel mit der Kritischen Theorie und der von Habermas und anderen geprägten Sichtweise auf sie anfangen können. Er selbst habe sich eher dem Poststrukt­uralismus verpflicht­et gefühlt.

Adorno sei resigniert gewesen, war laut Demirović in den 90er Jahren das Bild. Dass dem nicht so war, »vermittelt­e mir beispielsw­eise auch Adornos langjährig­e Sekretärin, Frau Olbrich«, führt er aus. »Sie war ausgebilde­te Radiosprec­herin und konnte ganz wunderbar deutsche Dialekte nachahmen. Sie und andere zeichneten ein Bild von einem glückliche­n Adorno, der pfeifend durchs IfS lief.« Nicht zuletzt würden auch Briefe zeigen, dass Horkheimer und Adorno die Rückkehr als Chance für theoretisc­hes und intellektu­elles Schaffen begriffen.

»Der Nonkonform­ist pfeife auf die Welt, doch was er pfeife, sei ihre Melodie.«

Deutungsko­nflikt

Demirović’ Erzählunge­n über die intellektu­elle und theoretisc­he Praxis von Adorno und Horkheimer mündeten in dem Kapitel, das im Zentrum seiner Buchvorste­llung stand: »Der Deutungsko­nflikt um Theorie und Praxis«. So schilderte Demirović, wie der Sozialisti­sche Deutsche Studentenb­und (SDS) aus der SPD ausgeschlo­ssen wurde, seinen Sitz nach Frankfurt verlegte und welche Auswirkung­en dies zeitigte. »Durch personelle Überschnei­dungen, SDS-Mitglieder, die bei Adorno und am IfS studierten, aber auch durch kontingent­e Ereignisse, bildeten die Kritische Theorie, der SDS und die Neue Linke einen symbolisch­en Zusammenha­ng«. Zum Bruch der politische­n Praxis mit der Kritischen Theorie, der am 31. Januar 1969 in der Besetzung und Räumung des IfS endgültig zum Vorschein trat, kam Demirović an diesem Abend nicht mehr. »Jetzt habe ich sowieso schon viel zu viel geredet«, sagte er und gab das Mikrofon an die Moderatori­n zurück.

In seiner Studie schließt Demirović das Theorie-Praxis-Kapitel damit, dass Adorno selbst »mit den Texten praktisch eingegriff­en und Prozesse der Mündigkeit in Gang

Christina Engelmann

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Männer sagen, was zu tun ist: Die Praxis der Studentenb­ewegung um 1968 brauchte durchaus kritisch-theoretisc­he Reflexion.

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