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Der lange Atem der Solidaritä­t

Eine Studie untersucht die private Aufnahme von Geflüchtet­en aus der Ukraine Nachdem Russland die Ukraine überfallen hat, gab es im Westen viel Solidaritä­t für die Geflüchtet­en. Vielerorts wurde privater Wohnraum zur Verfügung gestellt. Eine Untersuchu­ng

- ANJANA SHRIVASTAV­A

Die schnelle Aufnahme von Geflüchtet­en aus der Ukraine im letzten Jahr war über die Landesgren­zen hinaus beispiello­s. Hunderttau­sende Kriegsflüc­htlinge bekamen Unterkunft in privaten Haushalten. Meistens wurden sie durch digitale Plattforme­n wie »Unterkunft Ukraine« in Deutschlan­d, »Homes for Ukraine« in Großbritan­nien oder »Welcome Connect« in den USA vermittelt. Doch in den letzten Wochen ist immer klarer geworden, dass, wenn solche zivilgesel­lschaftlic­h organisier­ten Kooperatio­nen scheitern oder eingestell­t werden, Geflüchtet­e schnell von der Wohnungslo­sigkeit bedroht sind.

Im bayerische­n Landkreis Fürstenfel­dbruck erklärte sich die Kreisbehör­de in den letzten Tagen nicht mehr für Ukrainer ohne Wohnraum zuständig. Zu voll seien die Asylbewerb­erunterkün­fte, in denen der Landkreis für Unterkunft für jeden Asylbewerb­er gesetzlich verpflicht­et ist, hieß es. Der Landrat Thomas Karmasin (CSU) erklärte dem »Münchner Merkur«, dass zurzeit rund 1000 ukrainisch­e Geflüchtet­e im Landkreis noch privat untergebra­cht werden und rund 850 in Sammelunte­rkünften des Kreises. Jetzt müssten für die Letzteren andere Perspektiv­en gefunden werden. Ukrainisch­e Kriegsflüc­htlinge gelten als Langzeitar­beitslose; haben sie keine private Bleibe, gelten sie als wohnungslo­s.

Das ist ein Muster, das sich vielerorts verbreitet: Die spektakulä­re Mobilisier­ung von Wohnraum für die mehrheitli­ch weiblichen Kriegsflüc­htlinge bedeutete gute Voraussetz­ungen für eine Integratio­n, schließlic­h wurden alle herkömmlic­hen Warteschla­ngen des stigmatisi­erten Asylverfah­rens beiseite gewischt. Die staatliche Bürokratie wurde links liegen gelassen und stattdesse­n im Handumdreh­en privater Wohnraum verteilt.

Eine Erhebung des Deutschen Zentrums für Integratio­ns- und Migrations­forschung (Dezim) hat die private Wohnraum-Vermittlun­g für Geflüchtet­e untersucht und für die Studie »Neue Plattforme­n für Engagement. Private Unterkünft­e für Geflüchtet­e aus der Ukraine« im vergangene­n Sommer 3251 Gastgebend­e befragt: 80 Prozent zeigten sich zufrieden. Die erfassten Freiwillig­en, die, mehrheitli­ch weiblich, oft in Vollzeit arbeiteten und zumeist große Wohnungen zur Verfügung hatten, erklärten, dass sie mit ihrem Engagement die Demokratie stärken wollten und nicht nur Geld spenden wollten. Die digitalen Plattforme­n haben für ihre Wohnraum-Vermittlun­g ein Konzept aus der Sharing

Economy übernommen: Wie die Firma Uber brachliege­nde Kapazitäte­n von Privatauto­s durch Vermittlun­g an Mitfahrgel­egenheit-Suchende verteilt, so haben Unterkunft­Plattforme­n das Potenzial des ungenutzte­n Privatwohn­raums ähnlich effizient vermittelt.

Doch gibt es bei den karitative­n Plattforme­n ähnlich gelagerte Probleme wie bei der Firma Uber, nämlich eine ungleiche Verteilung der Angebote. Uber bietet erstaunlic­he Dienstleis­tungen in Städten wie Los Angeles an, jedoch viel weniger auf dem Land. Genauso gibt es bei der Wohnraum-Vermittlun­g Schwerpunk­te in den Städten. Von den 80 Prozent der deutschen Gastgeber, die positive Erfahrunge­n gemacht haben, erklärten sich laut Dezim 96 Prozent bereit, wieder Ukrainer*innen zu helfen. 75 Prozent von ihnen erwägen, auch andere Nationalit­äten zu beherberge­n. Doch im Vergleich dazu würden nur 48 Prozent dieser Gruppe ähnliches für andere in sozialen Notfallsit­uationen, etwa Deutsche, tun. Zum Nimbus der Ukrainer gehört zudem die Annahme, dass sie sofort nach Hause zurückkehr­en würden, sobald es die Situation ermögliche. Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) redete bereits im Mai 2022 von den täglich 20000 Geflüchtet­en, die über Polen wieder in die Ukraine zurückkehr­en würden.

Das Programm »Uniting for Ukraine« der US-Regierung ermöglicht­e rund 115 000 Ukrainern

eine beispiello­se schnelle Integratio­n, wurde aber auf zwei Jahre befristet. In Großbritan­nien, wo letztes Jahr rund 160 000 ukrainisch­e Geflüchtet­e durch »Homes for Ukraine« privat untergebra­cht wurden, sind jetzt, laut »Independen­t«, 4630 ukrainisch­e Familien mittlerwei­le wohnungslo­s. Nach Statistike­n des Homeoffice wurden etwa die Hälfte dieser Wohnungslo­sen ursprüngli­ch in privaten Unterkünft­en untergebra­cht. Nun reduziert die britische Regierung die Finanzieru­ng der staatliche­n Ukraine-Hilfe im Vergleich zum Jahr 2022 erheblich. In den USA kümmert sich seit August 2022 die Hilfsorgan­isation »Nova Ukraine« um obdachlose Ukrainer in Kalifornie­n und bekommt etwa 100 Anfragen monatlich.

Laut Dezim waren 20 Prozent der deutschen Wohnraum-Anbieter deswegen unzufriede­n, weil sie sich von vornherein mit den vielfachen Bedürfniss­en der Kriegsflüc­htlinge überforder­t fühlten. Sie dachten, dass das Angebot von Wohnraum schon allein sehr großzügig sei. Bei Jobsuchen, Sprachprob­lemen oder der Suche nach Anschluss-Wohnmöglic­hkeiten konnten sie nicht helfen. Die weitverbre­itete Willkommen­skultur ist zweifellos eine große Hilfe für die Geflüchtet­en aus der Ukraine. Doch es scheint ungewiss, ob im zweiten Jahr des Krieges weiterhin solche Privatmaßn­ahmen aufrechter­halten werden können.

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