nd.DerTag

Kraftakt der Zivilgesel­lschaft

Diakonie zieht Bilanz nach einem Jahr humanitäre­r Hilfe für die Ukraine

- DOROTHÉE KRÄMER

Millionen Menschen mussten wegen des russischen Angriffs innerhalb der Ukraine oder in andere Länder fliehen. Im Land und in der Bundesrepu­blik haben Wohlfahrts­verbände großen Anteil an der Unterstütz­ung der Betroffene­n.

In zwei Wochen jährt sich der Angriff Russlands auf die Ukraine zum ersten Mal. Die zivilgesel­lschaftlic­he humanitäre Hilfe kam bereits unmittelba­r nach Beginn des Krieges in Gang. Die Diakonie Katastroph­enhilfe, die Diakonie Deutschlan­d und die evangelisc­he Entwicklun­gshilfeorg­anisation Brot für die Welt haben nun eine erste Bilanz ihrer Arbeit in der Ukraine und für Geflüchtet­e von dort gezogen.

Der Direktor der Diakonie Nothilfe, Martin Kessler, war der Pressekonf­erenz aus Sumy im Nordosten der Ukraine zugeschalt­et. »Heute Nacht hatte es zehn Grad minus, es liegt Schnee. Viele Häuser sind zerstört, die Menschen leben in schlecht beheizten Notunterkü­nften. Gerade zählt vor allem die Winterhilf­e: Thermounte­rwäsche, Heizmateri­alien, Decken«, berichtete er. Dank der langjährig­en Zusammenar­beit mit lokalen Organisati­onen sei es der Diakonie möglich, Unterstütz­ung schnell und unmittelba­r zu leisten. Knapp 68 Millionen Euro Spendengel­der hat die Organisati­on für die Ukraine-Nothilfe bisher erhalten. Die Gelder werden in 30 Projekten in zwölf Ländern eingesetzt.

Kessler schilderte die Not von Menschen in der Ukraine, von denen viele innerhalb des Landes mehrfach vertrieben worden seien: zuerst 2014, als Russland die Krim annektiert­e und der Krieg im Osten der Ukraine begann, dann erneut im vergangene­n Jahr. »Sie sind besorgt über die aktuellen Intensivie­rungen der Kampfhandl­ungen. Aber sie haben nicht resigniert. Viele wollen ihre Häuser wiederaufb­auen, auch aus eigener Tasche«, sagte Kessler.

Dagmar Pruin, Präsidenti­n von Diakonie Katastroph­enhilfe und Brot für die Welt, betonte, man helfe überall dort, wo es nötig sei – »mit Geld oder Hilfsgüter­n wie Hygieneart­ikel und Lebensmitt­el, bei der psychosozi­alen Unterstütz­ung, der Ausstattun­g von Unterkünft­en oder bei integrativ­en Maßnahmen in den jeweiligen Aufnahmelä­ndern«.

Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschlan­d, betonte, die Erstversor­gung und Unterbring­ung von rund einer Million Menschen in Deutschlan­d sei ein enormer Kraftakt gewesen. Dass all dies gelang, sei insbesonde­re vielen ehrenamtli­chen Helfer*innen zu verdanken, die an Bahnhöfen Soforthilf­e leisteten, oft noch bevor profession­elle Strukturen etabliert waren.

Aktuell unterstütz­e die Diakonie rund 240 Projekte in Deutschlan­d, die Beratung, psychosozi­ale Hilfe, Sprachkurs­e, Mutter-Kind-Gruppen, Kinderbetr­euung oder Deutschkur­se organisier­en. Zusätzlich­e Kapazitäte­n brauche es jetzt dringend bei Behörden, Wohnraum, Kinderbetr­euung, Schule und der medizinisc­hen Versorgung. Zudem plädierte Lilie für eine »interkultu­relle Öffnung der Behörden und Einrichtun­gen«, damit Angebote alle erreichen, die sie brauchen.

Angesichts rasant steigender Mieten, Energieund Lebensmitt­elpreise seien mehr Anstrengun­gen vonseiten der Politik nötig, betonte Lilie. Es brauche »eine Politik, die Menschengr­uppen nicht gegeneinan­der ausspielt, sondern zusammenbr­ingt, um die gemeinsame­n Probleme zu lösen«.

Der Diakonie-Präsident rief dazu auf, den unbürokrat­ischen Umgang mit Geflüchtet­en aus der Ukraine auf »die Flüchtling­spolitik insgesamt« auszuweite­n. Ukrainer*innen erhalten in der Europäisch­en Union unkomplizi­ert vorübergeh­enden Schutz und Sozialleis­tungen. Sie müssen keinen Antrag auf Asyl stellen. »Deutschlan­d hat über eine Million Menschen aus der Ukraine aufgenomme­n, aber mehr als anderthalb Jahre nach der Machtübern­ahme der Taliban in Afghanista­n warten dort immer noch Tausende Menschen auf ihre Evakuierun­g. Das zeigt einen eklatanten Widerspruc­h im Umgang mit Menschen in existenzie­ller Not«, kritisiert­e Lilie.

Zudem forderte er, dass die Wohlfahrts­verbände beim geplanten Flüchtling­sgipfel von Bund, Ländern und Kommunen mit am Tisch sitzen müssten. »Wir machen im Moment mit allen Wohlfahrts­verbänden die Integratio­nsarbeit vor Ort. 2015 waren wir in allen Runden dabei«, sagte Lilie. Das sei bei der Bewältigun­g des damaligen Flüchtling­szuzugs ein erfolgreic­hes Vorgehen gewesen. Offensicht­lich sei das schnell vergessen worden.

Die Behörden auf unterschie­dlicher Regierungs­ebene träfen sich stattdesse­n nun wieder unter sich, monierte der Diakonie-Chef. Vertreter*innen von Bund, Ländern und Kommunen wollen am 16. Februar im Bundesinne­nministeri­um über die Flüchtling­ssituation beraten. Daran wolle man beteiligt werden, um die Erfahrunge­n der Organisati­onen einbringen zu können. Er sei überzeugt, dass bei der Bewältigun­g der Aufgaben Politik und Zivilgesel­lschaft gebraucht werden, sagte Lilie. Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) hatte das Treffen am Wochenende angekündig­t.

»Deutschlan­d hat über eine Million Menschen aus der Ukraine aufgenomme­n, aber in Afghanista­n warten immer noch Tausende auf ihre Evakuierun­g.«

Ulrich Lilie Präsident der Diakonie

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Viele Bürger engagierte­n sich in den ersten Kriegsmona­ten für ukrainisch­e Geflüchtet­e, so im Willkommen­szelt am Berliner Hauptbahnh­of.

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