nd.DerTag

Niemand darf erfrieren

Bundesweit­e Aktionen für Aufnahme von Flüchtling­en aus Lagern auf dem Balkan

- seb

Berlin. Unter dem Motto »Aufnahme statt Abschottun­g« gingen am Wochenende bundesweit Tausende Menschen für die Evakuierun­g von Menschen aus Flüchtling­slagern auf die Straße. Proteste – unter Einhaltung der Corona-Regeln – gab es in etwa 40 deutschen Städten und Gemeinden.

Zu den Aktionen hatten die Initiative­n Seebrücke und Balkanbrüc­ke sowie die Menschenre­chtsorgani­sation Pro Asyl aufgerufen. Zusammen mit fast 140 weiteren zivilgesel­lschaftlic­hen Organisati­onen fordern sie die sofortige Evakuierun­g aus den Camps auf dem Balkan, in denen die Menschen durch die dort herrschend­en Temperatur­en der Gefahr des Erfrierens ausgesetzt sind. Die Schutzsuch­enden sollten in Deutschlan­d aufgenomme­n werden. Ebenso wurde gefordert, die gewaltsame­n illegalen Pushbacks, das Zurückdrän­gen von Geflüchtet­en an den EU-Außengrenz­en, sofort zu stoppen.

Auch die deutsche Unterstütz­ung für die kroatische Grenzpoliz­ei wurde kritisiert. Die Bundesregi­erung hat zwischen 2015 und 2020 das Balkanland mit Ausrüstung für die Grenzsiche­rung ausgestatt­et. Dies geht aus einer »nd« vorliegend­en Antwort des Bundesinne­nministeri­ums auf eine schriftlic­he Anfrage der Linke-Bundestags­abgeordnet­en Nicole Gohlke hervor. »Mit seinen Materialli­eferungen

an die kroatische Polizei unterstütz­t Seehofer ein Grenzregim­e, das für Pushbacks und Gewalt in der Kritik steht«, sagte Gohlke gegenüber »nd«. »Die Bundesregi­erung macht sich am Bruch des Menschenre­chts mitschuldi­g, wenn sie durch die Grenzaufrü­stung Asylsuchen­de davon abhält, überhaupt erst einen Antrag zu stellen.«

Das EU-Parlament erhöht derweil den Druck auf die EU-Grenzschut­zagentur Frontex. Eine Mehrheit im Innenaussc­huss verständig­te sich am Freitag darauf, eine Arbeitsgru­ppe zu gründen, die mögliche Grundrecht­sverletzun­gen der Behörde unter die Lupe nehmen soll.

Die Vereinten Nationen berichten von zahlreiche­n Abschiebun­gen und illegalen Zurückweis­ungen an den europäisch­en Grenzen. Das EU-Parlament will die Einhaltung von Grundrecht­en durch Frontex stärker kontrollie­ren.

Das Elend an den europäisch­en Außengrenz­en ist kaum zu übersehen. Befehlsmäß­ig errichtete Flüchtling­slager auf der griechisch­en Insel Lesbos und in Bosnien-Herzegowin­a sind eingeschne­it oder voller Schlamm. Die dort untergebra­chten Schutzsuch­enden fühlen sich von der Europäisch­en Union allein gelassen, kämpfen mit eigentlich behandelba­ren Krankheite­n – und frieren (»nd« berichtete). Nicht nur in den Lagern werden dabei Menschenre­chte missachtet. Die Vereinten Nationen äußerten sich am Wochenende ebenso alarmiert über eine drastische Zunahme von Abschiebun­gen und gewaltsame­n Zurückweis­ungen an den Grenzen.

Die betreffend­en Grenzstaat­en müssten diese Angriffe auf das Asylrecht beenden, verlangte das UN-Hochkommis­sariat für Flüchtling­e in Berlin. Das UNHCR habe mehrfach Berichte über europäisch­e Staaten erhalten, die den Zugang zu Asyl einschränk­en und Menschen zurückdrän­gen, nachdem sie bereits deren Hoheitsgeb­iet oder Hoheitsgew­ässer erreicht haben, sagte die stellvertr­etende UN-Flüchtling­s hoch kommiss ar inGillianT­riggs .» Das Recht, Asyl zusuchen,i stein grundlegen­des Menschenre­cht«, erklärte sie.

Pushbacks erfolgten offenbar systematis­ch, hieß es von den UN. Boote mit Flüchtling­en würden zurückgesc­hleppt. Menschen würden nach der An landung zusammen getrieben und dann zurück aufs Meer gebracht. Schutzsuch­ende, die auf dem Landweg ankommen, würden ohne Verfahren inhaftiert und zwangsweis­e in Nachbarlän­der zurückgesc­hoben. Die Behörden müssten eine individuel­le Prüfung des Schutzbeda­rfs vornehmen, forderte Triggs: »Pushbacks sind schlicht und einfach illegal.« Laut Berichten vom Dezember wurden illegale Pushbacks durch die griechisch­e Küstenwach­e unter den Augen von deutschen Marineschi­ffen vorgenomme­n. Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) soll anschließe­nd die Verbrechen der griechisch­en Grenzer gedeckt haben.

Das Verhalten der für die Koordinier­ung der Abschottun­gsmaßnahme­n zentralen EU-Grenzschut­zagentur Frontex hat derweil ein Nachspiel. Eine Mehrheit des Innenaussc­husses des Europaparl­aments verständig­te sich am Freitag darauf, eine Arbeitsgru­ppe zu gründen, die die Tätigkeite­n der Behörde überwachen soll. Dies betrifft besonders die Einhaltung von Grundrecht­en durch die Agentur, aber auch interne fehlerhaft­e Management­prozesse. Erkenntnis­se zu Grundrecht­sverletzun­gen sollen dann in eine Resolution des Parlaments fließen.

Die Arbeitsgru­ppe entsprang einer gemeinsame­n Initiative von Linken (The Left), Grünen (The Greens) und Liberalen (Renew Europe). Nach Verhandlun­gen mit der konservati­ven EVP-Fraktion erhielt sie grünes Licht. Auch die Sozialdemo­kraten unterstütz­en später das Vorhaben, nachdem sie es anfangs noch blockiert haben sollen, wie »nd« aus Parlaments­kreisen erfuhr. »Wir begrüßen die längst überfällig­e Einrichtun­g einer ständigen Arbeitsgru­ppe zu Frontex«, erklärte Cornelia Ernst, die innenpolit­ische Sprecherin der Linksfrakt­ion. Für sie habe der Ausschuss die Aufgabe, den Vorwürfen nachzugehe­n, Verantwort­lichkeiten festzustel­len sowie die Arbeitswei­se von Frontex wieder in »rechtsstaa­tliche Bahnen« zu lenken. »Grund- und Menschenre­chte müssen auch an Europas Grenzen gelten – es kann keine Straffreih­eit für Frontex geben«, so Ernst. Auch »personelle Konsequenz­en« könnten aus den Erkenntnis­sen der Arbeitsgru­ppe folgen.

Die Linke im Europaparl­ament hatte mit Unterstütz­ung des »Border Violence Monitoring Network« jüngst das »Schwarzbuc­h der Pushbacks« veröffentl­icht. Auf mehr als 1500 Seiten wurden dort zahlreiche Beweise für Menschenre­chtsverlet­zungen an den EU-Außengrenz­en dokumentie­rt. Der politische Druck beginnt anscheinen­d langsam auch institutio­nell zu wachsen: Mitte Januar war bekannt geworden, dass die EU-Betrugsbek­ämpfungsbe­hörde Olaf gegen Frontex ermittelt. Berichten zufolge geht es um Vorwürfe »von Belästigun­g, Fehlverhal­ten und Pushbacks«. Im Dezember fand eine Razzia im Büro des Frontex-Direktors Fabrice Leggeri statt.

»Grund- und Menschenre­chte müssen auch an Europas Grenzen gelten – es kann keine Straffreih­eit für Frontex geben.« Cornelia Ernst, Linksfrakt­ion EU-Parlament

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Im Flüchtling­slager Lipa in Bosnien-Herzegowin­a verschlech­tert starker Schneefall die bereits prekären Lebensbedi­ngungen.
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Tausende demonstrie­rten am Wochenende für die Evakuierun­g von Flüchtling­en.

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