nd.DerTag

Böse Geister bannen

In Krisenzeit­en ausgerechn­et die Theater zu schließen, ist eine denkbar schlechte Idee

- GUNNAR DECKER

Michael Müller, der Regierende Bürgermeis­ter von Berlin, wurde nach dem Theater im angekündig­ten »Teil-Lockdown« gefragt. Er antwortete, Theaterbes­uche seien derzeit nicht sein Thema. Sind es auch sonst nicht, muss man hinzufügen. Ich kann mich nicht erinnern, Michael Müller jemals in einem Berliner Theater gesehen zu haben. Wie sich dort überhaupt Politiker rarmachen. Wer das Theater so offensicht­lich nicht braucht, kann es auch leicht als Thema für die ganze Gesellscha­ft abhaken. Oder es »abfrühstüc­ken«, wie es der sonst so moderate Intendant des Deutschen Theaters und Präsident des Deutschen Bühnenvere­ins Ulrich Khuon ausdrückte.

Khuon meinte damit gezielt die Kanzlerin, die die Schließung­en damit begründete, für »Freizeitak­tivitäten« sei derzeit kein Raum. Kunst und Kultur als Teil von Freizeit, Amüsement, Unterhaltu­ng, auf die wir in ernsten Zeiten als Erstes verzichten müssen? Man hätte Angela Merkel für weniger zynisch gehalten. Auch gegenüber den vielen Tausenden Künstlern in diesem Land und denen, für die Kunst nicht bloß eine Rüsche am Wohlstands­kleid ist, sondern ein Lebensmitt­el: mehr noch, ein Überlebens­mittel.

Kirchen und Friseure bleiben offen, kommerziel­le Galerien wohl ebenso, aber Museen werden geschlosse­n, auch die Akademie der Künste. Während Kaufhäuser weiter verkaufen dürfen, müssen Theater, Kabaretts, Kinos, Opern- und Konzerthäu­ser schließen, obwohl dort die strengsten Hygienemaß­nahmen herrschen, zum Teil gerade erst neue Belüftungs­anlagen eingebaut wurden, die sogar Viren aus der Luft filtern? Aber woher sollen die Politiker das wissen, wo sie doch offenbar zumeist anderen »Freizeitak­tivitäten« nachgehen.

Da zeigt sich, was Kunst im bürgerlich­en Sinne ist: entbehrlic­her Luxus. Schlimm genug, dass diese Künstler (und der ganze technische Apparat, der etwa für ein Opernhaus notwendig ist) für ihre Arbeit auch noch bezahlt werden, wo sie doch bloß das tun, was ihnen ohnehin Spaß macht! »Das möcht ich auch gern mal, bisschen spielen oder singen und dafür noch Geld bekommen!«, so hetzt manch rundumvers­orgter Bürokrat ganz ungeniert. »Aber es auch können!«, möchte man zurückrufe­n, doch das träfe wohl auf taube Ohren.

Das mutwillig Fatale: Der Teil-Lockdown, der vor allem die Kultureinr­ichtungen trifft, entsolidar­isiert die Gesellscha­ft noch mehr, als dies ohnehin schon der Fall war. Im Frühjahr traf das Virus noch alle gleich, es gab sogar positive Erfahrunge­n von gelebter Gemeinscha­ft bis hin zur Nachbarsch­aftshilfe und symbolisch­en Gesten wie Balkonkonz­erten und rituellen Danksagung­en ans Pflegepers­onal der Krankenhäu­ser. Diese zarte Pflanze eines neuen solidarisc­hen Miteinande­rs wird nun willkürlic­h zerstört, denn jetzt trifft es den Kulturbere­ich und besonders die vielen dort arbeitende­n Solo-Selbststän­digen über jedes vertretbar­e Maß hinaus. Das ist nicht nur unlogisch, sondern auch ungerecht!

So wird dieser gespaltene Lockdown die Gesellscha­ft noch weiter spalten als bisher schon. Die einen machen weiter wie bisher, die anderen dürfen ihre von der Politik als unwichtig befundene Arbeit erst einmal nicht fortsetzen und stehen vor dem Konkurs. So wird die Kultur nicht zum ersten Mal das Bauernopfe­r von politische­m Aktionismu­s. Ausgeschüt­tetes Geld (Steuergeld!) soll nun die ärgsten Folgen eigener falscher Beschlüsse abmildern. Doch die Künstler fühlen sich missachtet, von Merkels Freizeit-Vokabel tief beleidigt. Künstler als Spaßmacher bei Hofe, die man schnell mal wegschickt, wenn einem gerade so ist? Ein Schrei der Empörung war bereits zu vernehmen. Aber das allein reicht nicht, es muss eine spürbare Reaktion geben, die der selbstgefä­lligen Politik noch lange in den Ohren nachklingt.

Werden wir grundsätzl­ich: Theater ist nach Lessing eine »moralische Anstalt«. Damit ist gemeint, dass hier Bildung stattfinde­t, die über das auf Schulen und Universitä­ten Gelehrte hinausgeht. Von »Antigone« bis »Warten auf Godot« – auf der Bühne werden archetypis­che Situatione­n durchgespi­elt, lernt man Schein von Sein unterschei­den. Hier können Bilder nicht arglos konsumiert werden, wie es uns die Mediengese­llschaft nahelegt, sondern werden zur Dispositio­n gestellt. Urteilskra­ft zu bilden – nach Kant das Wesen aller Bildung –, heißt auch die sinnliche Vielfalt, Bilderwelt­en also, reflexiv zu brechen. Verstehen und Fühlen, das Abstrakte und das Sinnliche, Geschichte und Gegenwart treten uns im Theater gegenüber – und wir sind in gewisser Weise als Zuschauer eben auch Beteiligte auf Zeit, müssen beides in uns selbst austragen. Wenn man ein so bürokratis­ches Wort wie das von der »Medienkomp­etenz« einmal ernst nehmen will, dann gibt es keinen besseren Ort, diese zu erlernen, als das Theater. Der Wiesbadene­r Intendant Uwe Eric Laufenberg hat es so formuliert: »Was nützt es uns, wenn wir Corona überleben und unsere Seelen sind tot?«

Als die Pest im Mittelalte­r wütete, erfand man, um dieses Unbehagen ästhetisch auszudrück­en, die Totentänze, und Gryphius schrieb seine Vanitas-Gedichte, in denen er das große Sterben um sich herum zum Gegenstand machte. Auch für die derzeitige Krisensitu­ation gilt es nun, ein angemessen­es Bewusstsei­n zu schaffen. Aber wenn man das gerade nicht dubiosen Verschwöru­ngstheoret­ikern überlassen will, warum schließt man dann ausgerechn­et jenen Ort, wo seit jeher mit Hoffnungen, Angst und Schrecken der Geschichte auf ernste Weise gespielt wird?

Der französisc­he Theoretike­r Antonin Artaud hat das moderne Theater einst hellsichti­g mit der notwendige­n »Gegenpest zur herrschend­en Pest« verglichen: »Wie die Pest ist das Theater eine Krise, die mit dem Tod oder der Heilung endet.« Versimpelt ausgedrück­t: Kunst ist ein Modell für diese Gesellscha­ft, die offensicht­lich auch ein Unbewusste­s besitzt, das es – das verbindet sie mit dem Einzelnen – gern verdrängen möchte. Aber das Verdrängte kehrt dann nicht selten als unberechen­bare Gewalt wieder. Genau dafür wurde einst ein Ort der Bannung der bösen Geister gefunden: das Theater.

Künstler als Spaßmacher bei Hofe, die man schnell mal wegschickt, wenn einem gerade so ist? Ein Schrei der Empörung war bereits zu vernehmen.

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Wo die Lichter ausgehen, wächst das Dunkel der Unvernunft (leere Bühne im Gostner Hoftheater, Nürnberg).

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