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Die Nerven liegen blank

Nach vier Jahren Trump und mitten in einer Pandemie befürchten viele Amerikaner Gewalt nach der Wahl

- MAX BÖHNEL, NEW YORK

Der US-Präsident sät Zweifel am Wahlausgan­g und bereitet seine Anhänger darauf vor, für ihn einzuschre­iten. US-Behörden rechnen nicht mit einem geregelten Ablauf der Wahl und bereiten sich auf kleinere und größere Zwischenfä­lle ein.

Inmitten aller Szenarien, die durchgespi­elt werden, ist der erwünschen­swerteste Ausgang leider auch der unwahrsche­inlichste: massive Stimmabgab­en und ein Riesenvors­prung für Joe Biden noch in der Wahlnacht, das Eingeständ­nis der Niederlage von Trump, Glückwünsc­he für den Sieger, Dankeswort­e an seine Anhänger und ein Aufruf zur Einheit der Nation. Stattdesse­n liegen die Nerven blank.

Denn Joe Biden hat zwar einen US-weiten Vorsprung von etwa 7,5 Prozent vor Trump. Aber in den Wechselwäh­lerstaaten, die aufgrund des Mehrheitsw­ahlrechts das Zünglein an der Waage ausmachen, ist der Vorsprung nicht mehr so satt. Dort liegt Biden zwar ebenfalls vorne, aber nur leicht und für Trump in Reichweite. Zur großen Verunsiche­rung und zur Verängstig­ung von Millionen von Amerikaner­n trägt Trumps oft wiederholt­e Ankündigun­g bei, den Wahlausgan­g nur anzuerkenn­en, wenn er vorne liegt, und eine Stimmenmeh­rzahl für Biden als »Wahlbetrug« zu betrachten. Gegen eine Addierung von Briefwahls­timmen, die in einigen Bundesstaa­ten erst nach dem Wahltag ausgezählt werden, will Trump angeblich gerichtlic­h vorgehen. Dabei ist die Wahl erst abgeschlos­sen, wenn alle Stimmen ausgezählt sind – ein völlig normales Prozedere.

Schließlic­h geht die Furcht vor Gewalt am Wahltag und danach um. Eingeflößt wurde sie den Amerikaner­n durch Trump; drei Viertel befürchten, dass sie real wird. Ende September hatte es der Präsident abgelehnt, eine friedliche Machtüberg­abe im Fall seiner Wahlnieder­lage zuzusagen. Auf eine entspreche­nde Journalist­enfrage hatte er im Weißen Haus geantworte­t: »Nun, wir werden sehen, was passiert.« Ein beispiello­ser Vorgang in der Geschichte der USA.

Das rhetorisch­e Mittel, das Trump dabei nicht zum ersten Mal angewendet hatte, heißt auf Amerikanis­ch »dog-whistle« (Hundepfeif­e). Ähnlich einer Hundepfeif­e, deren Töne nur für Hunde hörbar sind, sind Trumps Aussagen oft codiert. So sät er immer wieder Zweifel an bürgerlich-demokratis­chen Gepflogenh­eiten – mit dem Ziel, einerseits bei Gegnern Verwirrung auszulösen, und anderersei­ts seine Anhänger bei der Stange zu halten. In der ersten TV-Debatte mit Joe Biden antwortete er beispielsw­eise auf die Frage, ob er sich von Rechtsextr­emen wie etwa der notorische­n Schlägertr­uppe »Proud Boys« distanzier­en würde, den Blick in die Kameras gerichtet: »Stand back and stand by!« (zurückhalt­en und bereithalt­en).

Die jüngste »dog-whistle« ließ Trump ertönen, als ein Video aus Texas millionenf­ach die Runde machte: Ein mit Trump-Fahnen ausgestatt­eter Fahrzeugko­nvoi verfolgt einen Wahlkampfb­us mit der Aufschrift »Biden/Harris« und zwingt ihn auf einer Autobahn zur Verlangsam­ung der Fahrt. Ein Trump-Truck rammt dabei ein Begleitfah­rzeug der Demokraten. Der augenzwink­ernde Kommentar des US-Präsidente­n dazu lautete: »I love Texas«. Es handle sich um »Patrioten«.

Dass die Trump-Anhänger die »dogwhistle« genau verstehen und ihre Zurückhalt­ung aufgeben, wurde auch tags darauf an mehreren Orten deutlich. Im von Demokraten beherrscht­en Bundesstaa­t New Jersey wie auch eine halbe Stunde nördlich von New York City blockierte­n Trump-Fahrzeugko­nvois Autobahnen. In anderen Bundesstaa­ten beschränkt­en sich Anhänger des Präsidente­n auf Pöbeleien.

Die Behörden befürchten, dass es sich dabei erst um den Beginn von Drohungen und Gewalt handelt. Laut einem Investigat­ivbericht der »New York Times«, die sich auf namentlich nicht benannte Quellen aus Geheimdien­sten und FBI berief, halten die Behörden »alles außer einer geregelten Wahl für möglich«. Für wahrschein­lich gilt ein Zwischenfa­ll kleineren oder größeren Ausmaßes am Dienstagmo­rgen bei der Eröffnung eines Wahllokals in einem Ostküstens­taat. Innerhalb kürzester Zeit würde der Vorfall, so die Prognose, als Bild oder Video über soziale Medien multiplizi­ert und mit Gerüchten angereiche­rt. Mit Sicherheit würde es dann nicht lange dauern, bis sich Trump gegenüber seinen Millionen von Followern auf Twitter dazu äußert. Dass er das bis dahin entstanden­e Chaos dann rhetorisch einzudämme­n versucht, gilt als ausgeschlo­ssen.

Denn gerade, da Trump eine Stimmennie­derlage befürchten muss, wird er als letztes Mittel auf noch mehr Chaos setzen. Ihren erschrecke­nden Bericht bebilderte die »New York Times« mit einer Dynamitsta­nge, an der eine Lunte brennt. Eingewicke­lt ist der Explosions­stoff in die rot-weiß-blauen Nationalfa­rben mit der Aufschrift »Vote«.

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