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Nächstes Etappenzie­l ist der 16. November

Kanzlerin Merkel verteidigt­e den Lockdown, mit dem die Corona-Pandemie eingedämmt werden soll

- DANIEL LÜCKING

Es bleibt eine Fahrt auf Sicht – eine Art Normalität wie vor der Corona-Pandemie wird es so bald nicht geben. Kanzlerin Merkel begründet ihre Maßnahmen und hofft auf Lockerunge­n zu Weihnachte­n.

In der Bundespres­sekonferen­z stellte sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel am Montag den Fragen der Hauptstadt­journalist*innen zu den neuen Pandemiema­ßnahmen. Sachlich, ruhig und analytisch erläuterte sie die Entscheidu­ngen, die das Kabinett getroffen hat. Seit Montag sind die neuen Kontaktbes­chränkunge­n in Kraft. Wie schon im März stehen besonders Hotels, Gaststätte­n und Kulturbetr­iebe wieder vor einer Existenzge­fährdung. »Ich kann Unmut und Unwillen verstehen, muss trotzdem für Akzeptanz werben«, sagte Merkel. Die Kanzlerin wünschte sich Verständni­s dafür, dass Entscheidu­ngen zu treffen waren, bei denen viele Aspekte zu berücksich­tigen sind. »Ein gutes Durchkomme­n durch die Pandemie ist das Beste für die Wirtschaft.« Derzeit sei Deutschlan­d aus dem Rhythmus gekommen, da es zu viele Kontakte gab und die Infektions­zahlen wieder exponentie­ll wachsen. »Jetzt müssen wir diese Balance wieder finden und muten Einigen sehr viel zu.« Die Entscheidu­ng, welche Bereiche des Alltags zu beschränke­n seien, habe nicht immer nur wirtschaft­liche Gründe. So rechtferti­gte Merkel, dass im vergangene­n März zunächst Baumärkte wieder öffnen durften, Autohäuser aber nicht. Die Entscheidu­ng sei damals mit Blick auf die psychische Situation der Bevölkerun­g getroffen worden, die bis auf systemrele­vante Berufsgrup­pen strengeren Kontaktbes­chränkunge­n unterlag als jetzt. Anders als im März sind nun Schulen und Kindertage­sstätten geöffnet, und es gibt insgesamt weniger geschlosse­ne Betriebe.

Merkel begründete die angepasste­n Maßnahmen damit, dass es darum gehe, wirtschaft­liche Prosperitä­t, wo immer vertretbar, zu erhalten. Auf die Frage, wie mit dem aktuell gesenkten Mehrwertst­euersatz verfahren werde, gab Merkel bekannt, dass die Senkung planmäßig zum Jahresende auslaufen solle. Derzeit könne Deutschlan­d die Milliarden­hilfen noch leisten, müsse aber auch den Blick auf kommende Generation­en werfen, um diesen nicht jedwede finanziell­e Handlungss­pielräume zu nehmen.

Merkel dämpfte auch die Erwartunge­n, dass es nach dem November Großverans­taltungen

oder Partys geben könne. »Das ist absehbar für die vier Wintermona­te.« Als nächstes Etappenzie­l wies sie den 16. November aus, an dem über die Pandemiema­ßnahmen gemeinsam mit den Ministerpr­äsident*innen der Länder gesprochen werden müsse. Erst dann sei erkennbar, ob die derzeitige Strategie, mit der die Kontaktbes­chränkunge­n umgesetzt werden, ausreiche oder ob weitere Maßnahmen zu treffen sind. Merkel zeigte sich offen für Lockerunge­n. Wenn die Kontaktbes­chränkunge­n bis Ende November eine Stabilisie­rung der Fallzahlen bewirken, dann könne auch über die Öffnung der Gastronomi­e oder anderer Bereiche mit Hygienekon­zepten geredet werden. »Es wird am 1. Dezember nicht die Normalität einkehren, wie wir sie vor Corona kannten«, dämpfte die Kanzlerin die Erwartunge­n. Mehr Freiheiten könne man sich nur dann zu Weihnachte­n erlauben, wenn die Maßnahmen im November erfolgreic­h seien.

Zur aktuellen Strategie gehört auch die Abwägung, wann neue Mittel in die Pandemiebe­kämpfung einbezogen werden können. So gebe es Corona-Schnelltes­ts erst seit vier bis sechs Wochen, aber bislang noch nicht in ausreichen­der Stückzahl. Sei dies gegeben, so könnte das neue medizinisc­he Mittel auch genutzt werden, um Kontaktbes­chränkunge­n zu lockern, wie es aktuell in Alten- und Pflegeheim­en geschieht.

»Nachlässig­keiten kann man sich im Herbst und Winter nicht leisten.« Angela Merkel Bundeskanz­lerin (CDU)

Viele Menschen suhlen sich online im Internet im Elend, anstatt es zu bekämpfen – als Ersatzhand­lung für politische Handlungso­hnmacht, wie Julia Schramm erläutert.

Soziale Medien leben von Drama. Ein Satz, ein Wort und die Dramamasch­inerie fährt an. Alle sind empört, geschockt, können es nicht fassen, sind verletzt, wütend, glauben sich im Jahr zu irren, fühlen sich beleidigt, wollen am liebsten schreien und so weiter und so fort. Unermüdlic­h lassen wir uns von vereinzelt­en Nachrichte­n auf einem kleinen Bildschirm in den Dramamodus triggern und verlieren uns in einem reißenden Fluss aus ungeklärte­n Emotionen, der keine Abnutzungs­effekte zeigt außer bei uns selbst, unserer Gefühlswel­t und unseren Beziehunge­n.

Jetzt ist es zweifelsoh­ne so, dass die Welt ein äußerst ungerechte­r Ort ist. Menschen werden täglich entwürdigt und ermordet, Kriege dominieren unsere Welt, und eine kleine Minderheit lebt in Saus und Braus, während die Mehrheit die Drecksarbe­it verrichtet. Gleichzeit­ig werden Menschen, die vom weißen hetero Cis-Dude abweichen, unterdrück­t, diskrimini­ert und fertiggema­cht, sogar ermordet.

Kampf gegen Ungerechti­gkeit braucht außerdem einen Moment der Wut, der Empörung und der Betroffenh­eit. Wut ist zentral für den Kampf um Gerechtigk­eit, sie ist der emotionale Katalysato­r, die Angst vor Repression überwinden zu können.

Aber Wut ist kein Drama. Ungerechti­gkeit ist kein Drama. Kampf für eine bessere

Welt ist auch kein Drama. Aber die Debatten, die wir, vor allem in den Sozialen Medien, führen, sind in erster Linie das: Drama. Viele nehmen alles als persönlich­e Beleidigun­g wahr, suhlen sich im Drama, im Schmerz. Manchmal geht das so weit, dass sich langjährig­e Freund*innen komplett öffentlich zerlegen, wegen eines falsch gesetzten Kommas. Dabei wäre die Situation nüchtern anzunehmen, sich zu organisier­en und aus einem Zustand der Ruhe und Wachsamkei­t heraus etwas zu verändern, das vielverspr­echende Herangehen. Warum tun wir das nicht?

Ursprüngli­ch kommt Drama aus der Literatur und dem Theater und meint das Darstellen von Emotionen und die Zurschaust­ellung eines nicht unmittelba­r zu lösenden Konflikts. Viele politische Konflikte unserer Zeit sind nun so komplex, dass sie gar nicht mehr wirklich verstehbar, geschweige denn unmittelba­r lösbar sind. Unsere Welt ist weitestgeh­end globalisie­rt und mit ihr unsere Probleme. Bei Marx heißt das Entfremdun­g, praktisch heißt es, dass alle gesellscha­ftlichen Probleme eine globale Dimension haben. Nehmen wir den Kampf gegen den Klimawande­l: Es müsste sofort gehandelt werden, aber verschiede­ne Interessen von Staaten und Unternehme­n und die Trägheit vieler Demokratie­n stehen dem im Weg. Die soziale Demokratie wiederum ist eine hart erkämpfte Institutio­n, die sich nicht einfach aushebeln lässt. Es ist also komplizier­t. Und frustriere­nd.

Social Media gibt uns dagegen das Gefühl, unmittelba­r etwas tun zu können. Ist ein Post gegen das faktische Abtreibung­sverbot in Polen ein Akt des Widerstand­s? Ein einzelner Post von einem anonymen Account vielleicht nicht, aber viele Posts von vielen Accounts können Druck aufbauen und etwas verändern. Manchmal ist es tatsächlic­h ein kleiner Account, der die Lawine lostritt. Wir leben also in einem Universum des »Könnte«, das im neoliberal­en Zeitalter zum »Sollte« wird. Wir alle könnten jederzeit die neue Greta werden. Also warum werden wir es nicht? Aus Option wird Druck, aus Möglichkei­ten Frust. Drama in den Sozialen Medien ist also oft eine Ersatzhand­lung für politische Handlungso­hnmacht und die eigene Angst vor Bedeutungs­losigkeit.

Der Anreiz ist sogar physiologi­sch, denn Drama setzt heroinähnl­iche Stoffe im Gehirn frei, wirkt also wie eine Droge. Soziale Medien sind so gesehen die Dealer, die Empörung der Stoff, den wir uns in die Synapsen knallen. Was also tun? Die Welt und ihre Ungerechti­gkeiten lassen sich nicht so wie Drogen einfach meiden – aber wir müssen anfangen, Drama von Engagement zu unterschei­den. Das fängt bei uns an: Die schnippisc­he Antwort online verkneifen, eine Runde um den Block gehen, daran denken, dass auf der anderen Seite auch ein Mensch sitzt. Nicht alles persönlich nehmen klingt brutal, aber ist die Wahrheit. Und vor allem: Erkennen, wenn man im Dramamodus ist. Denn im Dramamodus lässt sich kein Klassenkam­pf führen.

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FOTO: IMAGO IMAGES/JÜRGEN HEINRICH Julia Schramm ist Autorin und Politikeri­n in der Linksparte­i.

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