Nächstes Etappenziel ist der 16. November
Kanzlerin Merkel verteidigte den Lockdown, mit dem die Corona-Pandemie eingedämmt werden soll
Es bleibt eine Fahrt auf Sicht – eine Art Normalität wie vor der Corona-Pandemie wird es so bald nicht geben. Kanzlerin Merkel begründet ihre Maßnahmen und hofft auf Lockerungen zu Weihnachten.
In der Bundespressekonferenz stellte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag den Fragen der Hauptstadtjournalist*innen zu den neuen Pandemiemaßnahmen. Sachlich, ruhig und analytisch erläuterte sie die Entscheidungen, die das Kabinett getroffen hat. Seit Montag sind die neuen Kontaktbeschränkungen in Kraft. Wie schon im März stehen besonders Hotels, Gaststätten und Kulturbetriebe wieder vor einer Existenzgefährdung. »Ich kann Unmut und Unwillen verstehen, muss trotzdem für Akzeptanz werben«, sagte Merkel. Die Kanzlerin wünschte sich Verständnis dafür, dass Entscheidungen zu treffen waren, bei denen viele Aspekte zu berücksichtigen sind. »Ein gutes Durchkommen durch die Pandemie ist das Beste für die Wirtschaft.« Derzeit sei Deutschland aus dem Rhythmus gekommen, da es zu viele Kontakte gab und die Infektionszahlen wieder exponentiell wachsen. »Jetzt müssen wir diese Balance wieder finden und muten Einigen sehr viel zu.« Die Entscheidung, welche Bereiche des Alltags zu beschränken seien, habe nicht immer nur wirtschaftliche Gründe. So rechtfertigte Merkel, dass im vergangenen März zunächst Baumärkte wieder öffnen durften, Autohäuser aber nicht. Die Entscheidung sei damals mit Blick auf die psychische Situation der Bevölkerung getroffen worden, die bis auf systemrelevante Berufsgruppen strengeren Kontaktbeschränkungen unterlag als jetzt. Anders als im März sind nun Schulen und Kindertagesstätten geöffnet, und es gibt insgesamt weniger geschlossene Betriebe.
Merkel begründete die angepassten Maßnahmen damit, dass es darum gehe, wirtschaftliche Prosperität, wo immer vertretbar, zu erhalten. Auf die Frage, wie mit dem aktuell gesenkten Mehrwertsteuersatz verfahren werde, gab Merkel bekannt, dass die Senkung planmäßig zum Jahresende auslaufen solle. Derzeit könne Deutschland die Milliardenhilfen noch leisten, müsse aber auch den Blick auf kommende Generationen werfen, um diesen nicht jedwede finanzielle Handlungsspielräume zu nehmen.
Merkel dämpfte auch die Erwartungen, dass es nach dem November Großveranstaltungen
oder Partys geben könne. »Das ist absehbar für die vier Wintermonate.« Als nächstes Etappenziel wies sie den 16. November aus, an dem über die Pandemiemaßnahmen gemeinsam mit den Ministerpräsident*innen der Länder gesprochen werden müsse. Erst dann sei erkennbar, ob die derzeitige Strategie, mit der die Kontaktbeschränkungen umgesetzt werden, ausreiche oder ob weitere Maßnahmen zu treffen sind. Merkel zeigte sich offen für Lockerungen. Wenn die Kontaktbeschränkungen bis Ende November eine Stabilisierung der Fallzahlen bewirken, dann könne auch über die Öffnung der Gastronomie oder anderer Bereiche mit Hygienekonzepten geredet werden. »Es wird am 1. Dezember nicht die Normalität einkehren, wie wir sie vor Corona kannten«, dämpfte die Kanzlerin die Erwartungen. Mehr Freiheiten könne man sich nur dann zu Weihnachten erlauben, wenn die Maßnahmen im November erfolgreich seien.
Zur aktuellen Strategie gehört auch die Abwägung, wann neue Mittel in die Pandemiebekämpfung einbezogen werden können. So gebe es Corona-Schnelltests erst seit vier bis sechs Wochen, aber bislang noch nicht in ausreichender Stückzahl. Sei dies gegeben, so könnte das neue medizinische Mittel auch genutzt werden, um Kontaktbeschränkungen zu lockern, wie es aktuell in Alten- und Pflegeheimen geschieht.
»Nachlässigkeiten kann man sich im Herbst und Winter nicht leisten.« Angela Merkel Bundeskanzlerin (CDU)
Viele Menschen suhlen sich online im Internet im Elend, anstatt es zu bekämpfen – als Ersatzhandlung für politische Handlungsohnmacht, wie Julia Schramm erläutert.
Soziale Medien leben von Drama. Ein Satz, ein Wort und die Dramamaschinerie fährt an. Alle sind empört, geschockt, können es nicht fassen, sind verletzt, wütend, glauben sich im Jahr zu irren, fühlen sich beleidigt, wollen am liebsten schreien und so weiter und so fort. Unermüdlich lassen wir uns von vereinzelten Nachrichten auf einem kleinen Bildschirm in den Dramamodus triggern und verlieren uns in einem reißenden Fluss aus ungeklärten Emotionen, der keine Abnutzungseffekte zeigt außer bei uns selbst, unserer Gefühlswelt und unseren Beziehungen.
Jetzt ist es zweifelsohne so, dass die Welt ein äußerst ungerechter Ort ist. Menschen werden täglich entwürdigt und ermordet, Kriege dominieren unsere Welt, und eine kleine Minderheit lebt in Saus und Braus, während die Mehrheit die Drecksarbeit verrichtet. Gleichzeitig werden Menschen, die vom weißen hetero Cis-Dude abweichen, unterdrückt, diskriminiert und fertiggemacht, sogar ermordet.
Kampf gegen Ungerechtigkeit braucht außerdem einen Moment der Wut, der Empörung und der Betroffenheit. Wut ist zentral für den Kampf um Gerechtigkeit, sie ist der emotionale Katalysator, die Angst vor Repression überwinden zu können.
Aber Wut ist kein Drama. Ungerechtigkeit ist kein Drama. Kampf für eine bessere
Welt ist auch kein Drama. Aber die Debatten, die wir, vor allem in den Sozialen Medien, führen, sind in erster Linie das: Drama. Viele nehmen alles als persönliche Beleidigung wahr, suhlen sich im Drama, im Schmerz. Manchmal geht das so weit, dass sich langjährige Freund*innen komplett öffentlich zerlegen, wegen eines falsch gesetzten Kommas. Dabei wäre die Situation nüchtern anzunehmen, sich zu organisieren und aus einem Zustand der Ruhe und Wachsamkeit heraus etwas zu verändern, das vielversprechende Herangehen. Warum tun wir das nicht?
Ursprünglich kommt Drama aus der Literatur und dem Theater und meint das Darstellen von Emotionen und die Zurschaustellung eines nicht unmittelbar zu lösenden Konflikts. Viele politische Konflikte unserer Zeit sind nun so komplex, dass sie gar nicht mehr wirklich verstehbar, geschweige denn unmittelbar lösbar sind. Unsere Welt ist weitestgehend globalisiert und mit ihr unsere Probleme. Bei Marx heißt das Entfremdung, praktisch heißt es, dass alle gesellschaftlichen Probleme eine globale Dimension haben. Nehmen wir den Kampf gegen den Klimawandel: Es müsste sofort gehandelt werden, aber verschiedene Interessen von Staaten und Unternehmen und die Trägheit vieler Demokratien stehen dem im Weg. Die soziale Demokratie wiederum ist eine hart erkämpfte Institution, die sich nicht einfach aushebeln lässt. Es ist also kompliziert. Und frustrierend.
Social Media gibt uns dagegen das Gefühl, unmittelbar etwas tun zu können. Ist ein Post gegen das faktische Abtreibungsverbot in Polen ein Akt des Widerstands? Ein einzelner Post von einem anonymen Account vielleicht nicht, aber viele Posts von vielen Accounts können Druck aufbauen und etwas verändern. Manchmal ist es tatsächlich ein kleiner Account, der die Lawine lostritt. Wir leben also in einem Universum des »Könnte«, das im neoliberalen Zeitalter zum »Sollte« wird. Wir alle könnten jederzeit die neue Greta werden. Also warum werden wir es nicht? Aus Option wird Druck, aus Möglichkeiten Frust. Drama in den Sozialen Medien ist also oft eine Ersatzhandlung für politische Handlungsohnmacht und die eigene Angst vor Bedeutungslosigkeit.
Der Anreiz ist sogar physiologisch, denn Drama setzt heroinähnliche Stoffe im Gehirn frei, wirkt also wie eine Droge. Soziale Medien sind so gesehen die Dealer, die Empörung der Stoff, den wir uns in die Synapsen knallen. Was also tun? Die Welt und ihre Ungerechtigkeiten lassen sich nicht so wie Drogen einfach meiden – aber wir müssen anfangen, Drama von Engagement zu unterscheiden. Das fängt bei uns an: Die schnippische Antwort online verkneifen, eine Runde um den Block gehen, daran denken, dass auf der anderen Seite auch ein Mensch sitzt. Nicht alles persönlich nehmen klingt brutal, aber ist die Wahrheit. Und vor allem: Erkennen, wenn man im Dramamodus ist. Denn im Dramamodus lässt sich kein Klassenkampf führen.