Friedenskampf am Fenster
Ostermärsche und Flüchtlingshilfe – linke Solidarität funktioniert in Coronazeiten
Berlin. Am Osterwochenende musste die Friedensbewegung besondere Lebensfähigkeit beweisen. Ausgerechnet am 60. Jahrestag des ersten Ostermarsches erlegte das Coronavirus den Friedensbewegten ungewohnte Grenzen auf, öffentlich für ihre Ziele zu werben. Und sie bewiesen – wieder einmal – die nötige Flexibilität. Die Großdemonstration fand im Internet statt, aber auch an Fenstern oder in einem digitalen Friedensmeeting.
Der zu Ostern 2020 wegen Corona viel beschworene Ruf nach Solidarität ist ein Ruf nach Leben und Frieden. Ein Leben in Frieden ist zugleich Voraussetzung auch dafür, eine Pandemie
wie die jetzige mit möglichst wenigen Opfern zu überstehen. Ostern 2020 war ein Wochenende der Solidarität – mehr als in anderen Jahren zuvor, wenn man es an der Nachbarschaftshilfe misst. Aber Ostern 2020 war für viele Menschen auch Anlass, Solidarität zu fordern, weil sie sie gerade jetzt gefährdet sehen. In einer von Greenpeace Deutschland organisierten Online-Diskussion ging es am Montag auch darum, was Solidarität in Zeiten von Corona bedeutet, wenn Klimawandel und humanitäre Konflikte dringend Handeln erfordern. Dass nationale Egoismen zu unsolidarischen Lösungen führen und langfristig keinen Weg bieten, darüber waren sich die Teilnehmer einig.
Praktisch zur gleichen Zeit kämpften Flüchtlinge auf mehreren Schlauchbooten im Mittelmeer um ihr Überleben. Dass Länder wie Malta die Corona-Pandemie missbrauchen, um Rechtsstandards beim Umgang mit Menschen in Not auszusetzen, war ebenfalls ein Fazit der Runde. Viele in Deutschland stoßen sich daran, dass auch ihr Land nicht so handelt, dass es solidarisch genannt werden könnte – wie am Wochenende eine als Warteschlange vor einem Bäcker getarnte Menschenkette sichtbar machte.
Noch Ende Februar riefen zahlreiche Organisationen dazu auf, den 60. Geburtstag der Ostermärsche mit Demonstrationen auf der Straße zu feiern. Wegen der Coronakrise kam es nun anders.
Im Jahr 1960 hatte es zu Ostern erstmals eine größere Friedensdemonstration in der Bundesrepublik gegeben. Rund 1500 Menschen zogen damals über mehrere Tage zum Truppenübungsplatz Bergen-Hohne in der Lüneburger Heide. Ausgerechnet am runden Jubiläum dieser Ereignisse mussten die Organisatoren in diesem Jahr umdenken. Demos und Kundgebungen mussten fast überall abgesagt werden. Stattdessen versuchte die Friedensbewegung, ihre Themen und Forderungen mit Onlineaktionen, Live-Konferenzen im Internet und über Social-Media-Kanäle an den Mann und die Frau zu bringen: Kritik an den in Deutschland und weltweit weiter steigenden Rüstungsausgaben und Waffenexporten, solidarisches Miteinander und mehr Kooperation der Staaten angesichts der Corona-Epidemie. Gleichzeitig waren Unterstützer zu Aktionen auf dem heimischen Balkon, im Garten, bei Spaziergängen oder mit selbst gemachten Bildern aufgerufen.
»In den vergangenen Jahren haben wir eine enorme Aufrüstung erlebt. Dabei sollte es angeblich um unsere Sicherheit gehen«, sagt Philipp Ingenleuf vom Netzwerk Friedenskooperative. »Jetzt sehen wir, dass Investitionen in ganz anderen Bereichen benötigt werden, damit die Menschen sicher leben können. Es ist ein Unding, dass so viel Geld für Rüstung verschleudert wird. Statt Geld für Panzer oder Kampfflugzeuge auszugeben, brauchen wir mehr Intensivstationen und vor allem gut ausgebildetes sowie gut bezahltes Personal im Gesundheitsbereich.«
Für Samstag hatten das Netzwerk und weitere Initiativen zu einer Art Großdemonstration im Internet aufgerufen, an der Interessierte durch das Anklicken eines vorab verbreiteten Links teilnehmen konnten. Auf der digitalen Kundgebung sprachen Beatrice Fihn, Direktorin der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen ICAN), der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche Deutschlands, Renke Brahms, der Waffenexportkritiker Jürgen Grässlin und der Liedermacher Konstantin Wecker.
Gleichzeitig starteten das Bremer Friedensforum und das Friedenszentrum in Braunschweig ihre virtuellen Ostermärsche mit Redebeiträgen und Forderungen. Gerade in Corona-Zeiten werde die Notwendigkeit einer friedens- und abrüstungspolitischen Wende überdeutlich, hieß es: »Weniger Mittel für todbringende
Rüstung und Kriegseinsätze würden finanziellen Raum für Investitionen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialbereich, in Alterssicherheit und ökologischen Umbau sowie für Maßnahmen zur Rettung der Umwelt schaffen.«
Daneben bekräftigten Hunderte Bremer mit einer Anzeige im »WeserKurier« ihre Forderungen nach Abrüstung und Klimaschutz. Auf dem Internetportal des Braunschweiger Friedenszentrums veröffentlichten Aktivisten Fotos von sich mit Forderungen
wie »Raus aus der Nato – Frieden mit Russland« und »Abrüsten bringt Milliarden für den Klimaschutz«.
Auch der traditionelle Ostermarsch Rhein-Ruhr fand in diesem Jahr digital statt. Unter dem Motto »Atomwaffen verbieten – Klima schützen statt aufrüsten – Nein zur EU-Armee« riefen die Veranstalter dazu auf, virtuell und zu Hause zu demonstrieren. Zum Auftakt gab es im Internet Videos mit Musikstücken und Ansprachen sowie die Texte von Reden, die ursprünglich auf der Straße gehalten werden sollten.
Viele Menschen hätten eigene Bilder mit Friedensfahnen, Anti-AtomAufklebern oder Plakaten mit Klimaschutzanliegen von ihren Wohnungen, Balkonen, Gärten oder von Spaziergängen an das Ostermarschbüro geschickt, erklärten die Organisatoren. Auf einem Transparent an einem Autobahnübergang in Dortmund hieß es: »Geld für Gesundheit statt für Rüstung«. In Duisburg stand »Beatmungsgeräte statt Atombomber« auf einem Plakat. Und in Essen mahnte ein Aktivist: »Kauft Frieden – er ist bald alle!«
Für Sonntagabend hatte der Linke-Bundestagsabgeordnete Diether Dehm zu einem »Digitalen OsterFriedens-Meeting« geladen. Dehm und seine Parteikollegen Heike Händel und Oskar Lafontaine diskutierten mit den per Telefon oder durch die Video-App »Zoom« zugeschalteten Menschen über Friedenspolitik.
Nur in wenigen Orten versammelten sich Ostermarschierer auf der Straße. Mit Gesichtsmasken und großem Abstand zueinander forderten am Karfreitag rund 20 Demonstranten im westfälischen Gronau die Stilllegung der Urananreicherungsanlage und einen Stopp der Urantransporte nach Russland. Eine vom hessischen Linke-Landtagsabgeordneten Ulrich Wilken angemeldete Motorraddemo des Motorradklubs »Kuhle Wampe« wurde kurzfristig von der Stadt Frankfurt verboten.
»Wenn die Ostermärsche in Deutschland ausgerechnet im sechzigsten Jahr ihres Bestehens ausgefallen wären, wäre das für die Friedensbewegung eine Katastrophe gewesen«, sagt Kristian Golla vom Netzwerk Friedenskooperative. Er sei beeindruckt zu sehen, wie kreativ die Bewegung ihre Forderungen nach Frieden und Abrüstung trotz Coronakrise in die Öffentlichkeit bringe: »Wer hätte gedacht, dass die Ostermärsche nach sechs Jahrzehnten noch einmal so innovativ werden?«
Das zentrale Ostermarschbüro in Frankfurt am Main zeigte sich am Montag besorgt über die Aufrufe und Maßnahmen der Regierenden, »wonach wir Bürgerinnen und Bürger angesichts von Corona zu schweigen hätten«. Unter Strafandrohung seien Ostermarschinitiativen aufgefordert worden, ihre Forderungen hintanzustellen. »Die nächsten Aktionen der Friedensbewegung und der Ostermarsch des Jahres 2021 müssen entschieden gegen die weitere Militarisierung der Gesellschaft, für internationale Kooperation und Solidarität mobilisieren«, sagte der Sprecher des Ostermarschbüros, Willi van Ooyen.
»Wer hätte gedacht, dass die Ostermärsche nach sechs Jahrzehnten noch einmal so innovativ werden?«
Kristian Golla, Netzwerk Friedenskooperative