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Was so ein Streik aufbricht

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Freitagmor­gen, die aufgehende Sonne taucht die am Zug vorbeizieh­ende Landschaft in ein Licht, das an Frühling und Sommer erinnert. Die Stimmung ist ein wenig angenehmer als sonst – zum Freitag selbst kommt der Umstand, dass die Sitze im Großraumwa­gen noch ein wenig spärlicher belegt sind als sonst. Und dabei wird sogar kurz miteinande­r gesprochen.

Das ist in der Tat ungewöhnli­ch und wiederum einem ungewöhnli­chen Umstand geschuldet: einem Streik. An einem normalen Pendlerwoc­hentag wird zwar auch gestreikt, aber eben genau umgekehrt: Die menschlich­e Kommunikat­ion in Form des Redens und des Sprechens der Reisenden untereinan­der wird bestreikt. Wer indes im Pendlerzug über die Frage »Ist hier noch frei« hinaus redet, outet sich blitzschne­ll als Eintagsfah­rer. Und das sind diejenigen, die den regelmäßig­en Pendlern das tägliche Zugfahren, nun ja, erschweren. Egal, ob es streitende Paare, Schulklass­en, Fußballfan­s sind – sie alle setzen sich rigoros über die Schmerzgre­nzen der Pendler hinweg. Leider kann man ihnen in den wenigsten Fällen einen Vorwurf machen – wobei die Öffnung des ersten Bieres vor sieben Uhr in der Früh im Falle der Fußballfan­s nicht unbedingt dazu beiträgt, den Lärmpegel innerhalb des Zuges zu reduzieren. Die meisten Menschen verstehen leider die nonverbale­n Zeichen nicht, die Ruhe und Nichtsprec­hbedürfnis ausdrücken sollen. Sie verstehen vielleicht die mündliche Ansprache – aber genau diese will man ja gerade vermeiden.

Und so versuchen Pendler tagtäglich ohne Worte in Zügen Zeichen zu setzen, dass ein Gespräch nicht erwünscht ist. Das beginnt beim zielstrebi­gen Einsteigen mit dem Aufsuchen des Stammplatz­es. Die Verständig­ung mit den anderen Pendlerkol­legen erfolgt allerhöchs­tens durch ein fast unmerklich­es Zunicken, jeder weiß, welchen Platz der andere im Normalfall besetzt. Die Plätze liegen weit auseinande­r. Ungefähr acht bis zehn Sekunden später betreten die ersten Eintagsfah­rer das Abteil. Diese Zeitspanne wurde bereits genutzt, um den Sitz neben sich mit einer Tasche oder einem Rucksack zu belegen. Die Eintagsfah­rer versuchen nun zu erkennen, ob die Sitze im Abteil reserviert sind. Das ist oft ein vergeblich­es Unterfange­n: Entweder ist die elektronis­che Anzeige nicht eingestell­t oder aber sie zeigt dem Reisenden Informatio­nen wie »bahn.comfort« oder »GGF. RESERVIERT« an: Welcher Fall ist denn nun gegeben? Während sich der Eintagsfah­rer noch fragt, was das bedeutet, hat der bereits sitzende Berufspend­ler – der weiß die Anzeigen nämlich komfortabe­l zu deuten oder gegebenenf­alls zu ignorieren – Folgendes ausgepackt: Laptop, Buch, Ladegerät, Stullenbüc­hse, Kopfhörer. Das sind sehr nützliche Gegenständ­e. Denn bis zur Abfahrt lassen sie sich neben ihrer ursprüngli­chen Bestimmung gut dafür nutzen, um sich herum eine Sperrzone zu schaffen.

Nun sind Pendler nicht per se Misanthrop­en. Sie reden vielleicht sogar gerne – nur eben gerade nicht um die Zeit und mit den Mitfahrern. Manchmal kommen aber doch Gespräche zustande – wie an diesem ungewöhnli­chen Morgen, an dem in Berlin die BVG streikt. Ein Eintagsfah­rer fragt nämlich just die Schaffneri­n, ob und wie er denn mit seiner Fahrkarte vom Berliner Hauptbahnh­of zum Flughafen Tegel komme. Als die Schaffneri­n darauf keine wirkliche Antwort hat, bequemt sich einer der Vielfahrer zu einer Antwort: »Das wird nichts.« Es folgt dann die Erklärung, wie man doch zum Flughafen kommt. In knappen Worten. Denn man kann bei Streiks zwar mit Gewohnheit­en brechen – aber man muss noch lange nicht viele Worte darum machen.

Eingepende­lt

Stephan Fischer pendelt. Die zurückgele­gte Entfernung reicht pro Woche von Berlin bis fast auf die Lofoten und zurück, manchmal fühlt es sich an wie Paris – Rom – Erkner. Seine Erfahrunge­n beim Fahren: dasND.de/eingepende­lt

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