Christine Heide erinnert sich an den Skandal um die »Hitler-Tagebücher«
Hitlers »Tagebücher« waren lange der größte Presseskandal: Erinnerungen einer Redakteurin.
Der journalistische Super-GAU traf mich mit voller Wucht. Nie, so hatte ich bis dahin geglaubt, könnte so etwas beim »Stern« passieren – dass ausgerechnet unsere Redaktion einer üblen Fälschung aufsitzt. Bei jeder anderen Geschichte als bei den HitlerTagebüchern wäre das unmöglich gewesen. Der »Stern« verfügte über eine hervorragende Dokumentation, über einen ausgewiesenen Experten für das Dritte Reich und zahlreiche Kontrollmaßnahmen. Jede normale Geschichte wurde vor dem Druck auf mögliche Fehler hin überprüft. Namen, Titel, Ortsangaben und Jahreszahlen mussten stimmen. Dann schauten noch die Juristen auf den Text.
Was man selber recherchiert hatte, musste man belegen können. Manchmal schaltete sich sogar Henri Nannen persönlich ein, der Gründer und langjährige Chefredakteur des »Stern«. Mir ist das einmal passiert, als ich eine Geschichte geschrieben hatte über Arbeitgeber, die Frauen benachteiligen, nur weil sie Frauen sind. Darunter befanden sich auch gute Anzeigenkunden des »Stern«. Unsere Rechtsabteilung hätte die ganze Geschichte am liebsten in den Papierkorb entsorgt. Henri Nannen aber rief mich zu sich und fragte, wie ich an die geschilderten Fälle gekommen sei. Als ich ihm sagte, ich hätte sie über Betriebsräte und Gewerkschafter bekommen, druckte er sie. Es ist auch keine Gegendarstellung gekommen.
Bei den Hitler-Tagebüchern dagegen lief alles anders, weil man glaubte, den großen Scoop an Land gezogen zu haben, und das erst mal für sich behalten wollte. Deshalb waren die Regeln des Handwerks, die ansonsten akribische Qualitäts- und Quellenkontrolle, außer Kraft gesetzt. Der Fall des »Spiegel«-Reporters Claas Relotius, der kürzlich Schlagzeilen gemacht hat, lag dagegen anders – er hatte selber Geschichten ganz oder teilweise erfunden. Aber der Imageverlust für die gesamte Presse ist auch in diesem Fall immens.
Angekauft worden waren die Hitler-Tagebücher bereits 1981 – unter strikter Geheimhaltung – vom damaligen Verlagsleiter Manfred Fischer über die Köpfe der damaligen Chefredakteure, Peter Koch und Felix Schmidt, hinweg. Nannen war bereits Herausgeber geworden und anfangs ebenfalls nicht informiert. Als er 1982 einige Tagebücher gelesen hatte, fand er sie inhaltlich platt und langweilig. Auf alle Fälle müssten sie von Hitler-Experten wie Joachim Fest oder Sebastian Haffner bearbeitet werden, verlangte er. Doch nun stellte sich heraus, dass der Verlag bereits dem Kollegen Gerd Heidemann, der die Tagebücher aufgespürt hatte, sowie seinem Ressortleiter Thomas Walde zugesichert hatte, sie dürften die Tagebücher exklusiv auswerten. Es war also auch viel Geld im Spiel, das möglicherweise den gesunden Menschenverstand vernebelt hat.
Gerd Heidemann galt damals als guter Rechercheur, Thomas Walde war allgemein beliebt. Dass das Bundeskriminalamt ihnen gegenüber bereits am 28. März 1983 aufgrund der Papierbeschaffenheit Zweifel an der Echtheit der Dokumente geäußert hatte, verschwiegen sie. Einen Monat später, am 28. April, wurde der »Stern« mit dem Titel »Hitlers Tagebücher entdeckt« veröffentlicht, gestützt auf andere Experten als die von Nannen gewünschten, die aber die Echtheit bescheinigten. Sehr selbstgewiss war die Ankündigung: »Die Geschichte des Dritten Reiches wird in großen Teilen neu geschrieben werden müssen.«
Am 5. Mai folgte der zweite Teil mit dem Titel »Der Fall Heß«.
Und bereits einen Tag später war der Super-GAU da: Das Bundesarchiv in Koblenz kam zu dem amtlichen Prüfergebnis, dass die Tagebücher gefälscht sind. Verkündet wurde die Sensation vom damaligen Bundesin- nenminister Friedrich Zimmermann, CSU, ein wenig schadenfroh wie viele Politiker.
Bis zu den Hitler-Tagebüchern galt der »Stern« als das soziale Gewissen der Nation. Im Mai 1983 war ich bereits seit zwölf Jahren dort Redakteurin und hatte mich von Anfang an für die Verbesserung der Situation von Kindern, Familien und Alleinerziehenden eingesetzt.
Unter dem Titel »Kein Erbarmen mit den Kindern« stellte ich 1972 den Zusammenhang zwischen den 2000 Kindern, die jährlich im Straßenverkehr tödlich verunglückten (nur in Westdeutschland!), und 30 000 fehlenden Spielplätzen her. »Kinderfeind Finanzamt« hieß die Geschichte, in der ich 1977 erstmals kritisierte, dass die Kosten für Kinder steuerlich nur ungenügend berücksichtigt wurden. Viele Kollegen waren, so wie ich, mit Herzblut bei der Sache. Wenn ein Thema einmal in einer Konferenz angenommen war, konnten und sollten wir es auch gründlich recherchieren. Fake-News? Doch nicht bei uns!
Und dann das Debakel mit den Hitler-Tagebüchern! Wir waren erst einmal fassungslos. Noch am Vormittag des 6. Mai hatte Chefredakteur Felix Schmidt aufkommende Zweifel an der Echtheit der Tagebücher sowie Kritik an ihrer Präsentation rüde abgewürgt. Um 17 Uhr – als die Wahrheit bekannt geworden war – fand eine Versammlung der gesamten Redaktion in der Kantine statt. Chefredakteur Schmidt, Herausgeber Nannen und Verlagschef Schulte-Hillen wurden mit Fragen bombardiert. Die Antworten waren ausweichend. Man müsse erst die Hintergründe aufklären.
Damit wurde Michael Seufert beauftragt, der Leiter des Ressorts »Deutschland aktuell«. Schon nach einem Tag fanden seine Rechercheure heraus, dass der Kunstmaler Konrad Kujau die Tagebücher geschrieben und die obskure Geschichte über ihre Entdeckung erfunden hatte. Dafür hatte der Verlag Gruner& Jahr über Gerd Heidemann 9,3 Millionen Deutsche Mark gezahlt, von denen Kujau aber nur einen Teil bekommen haben wollte. Heidemann bestreitet bis heute, Geld vom Verlag veruntreut zu haben. Er und Kujau wurden später zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Am 7. Mai traten die bisherigen Chefredakteure Koch und Schmidt zurück. Am 8. Mai, einem Sonntag, fand eine Vollversammlung der Redaktion unter Leitung des langjährigen Verantwortlichen für die Optik, Rolf Gillhausen, und Henri Nannens statt. Dieser wollte nun zusammen mit der Redaktion »den Karren aus dem Dreck ziehen«. Die Redakteure forderten weitere Rücktritte von Verantwortlichen, die Wahl eines Beirats und ein Redaktionsstatut, in dem die fortschrittlich-liberale Haltung des »Stern« festgeschrieben werden sollte – sowie die Sicherung der Unabhängigkeit des Blattes gegenüber dem Verlag.
Was darauf folgte, ist weniger bekannt. Für die Redaktion war es der GAU nach dem Super-GAU: Während ein Redaktionsteam unter Hochdruck an der Aufarbeitung des Fälschungsskandals arbeitete, suchte der Verlag ein neues Chefredakteursteam und entschied sich über den Kopf der Redaktion hinweg für den Fernsehjournalisten Peter Scholl-Latour und den erzkonservativen Herausgeber des »Capital«, Johannes Gross.
Das kam am Freitag, den 13. Mai 1983, heraus.
Die nächsten Tage waren für uns Journalisten noch nervenaufreibender als die vorangegangenen: Wir besetzten die Redaktionsräume rund um die Uhr und versuchten so, den Verlag von seiner Entscheidung abzubringen. Es kamen auch immer mehr Korrespondenten aus ganz Deutschland und aus aller Welt nach Hamburg, um uns bei unserem Kampf für die Pressefreiheit zu unterstützen. Ich erinnere mich an schlaflose Nächte mit endlosen Diskussionen in der Kantine, während eine Abordnung der Redaktion mit dem Verlag verhandelte. Am Ende kam ein Kompromiss bei all dem heraus: Johannes Gross musste wieder gehen, Peter Scholl-Latour wurde, zusammen mit Rolf Gillhausen, neuer Chefredakteur.
Für mich persönlich hatte das Ganze am Ende eine positive Folge: Auf den Platz im »Stern«, der eigentlich für weitere Folgen der Hitler-Tagebücher vorgesehen war, kamen einige Geschichten von mir, die bereits fertig waren – darunter die Serie »Bei Scheidung Mord«. Darin berichtete ich über die Hintergründe von Familientragödien.
Bereits in der Ausgabe, die unter dem Titel »Betrifft: Stern« am 26. Mai eine erste Aufarbeitung des Tagebuch-Desasters enthielt, stand eine andere Geschichte von mir, in der es um die zunehmende Verunreinigung der Städte durch Hundekot ging. Den Titel fand Rolf Gillhausen passend für das ganze Heft: »So ’ne Scheiße«.
Bei den vermeintlichen Hitler-Tagebüchern lief alles anders als sonst. Man glaubte, den großen Scoop an Land gezogen zu haben, und wollte das dann erst mal für sich behalten. Deshalb waren alle Regeln des Pressehandwerks, war die ansonsten so akribische Qualitäts- und Quellenkontrolle außer Kraft gesetzt.