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Stefan Sell sieht eine therapeuti­sche Funktion im SPD-»Bürgergeld«

Wer hätte etwas von den Arbeitsmar­ktplänen der Sozialdemo­kraten? Eine Einschätzu­ng von Stefan Sell

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Die SPD hat sich in der Wahrnehmun­g einiger Kritiker einen ordentlich­en »Linksrutsc­h« gegönnt, zumindest auf dem Papier. Aus der Perspektiv­e anderer Kritiker dagegen hantiert die Sozialdemo­kratie wieder einmal mit einer semantisch­en Fata Morgana, also der Umetiketti­erung des für die SPD existenzbe­drohenden Begriffs »Hartz IV« hin zu einem netter klingenden »Bürgergeld«. Die Befürworte­r wiederum berauschen sich an der ausgegeben­en Parole, mit dem nun vorgelegte­n SPD-Konzept »Ein neuer Sozialstaa­t für eine neue Zeit« habe die Partei nunmehr die Blaupause für eine moderne soziale Sicherheit­sarchitekt­ur gefunden.

Wer hat Recht? Vielleicht keiner. Denn wie so oft ist die Sachlage komplizier­ter und bei genauerem Hinsehen sind die SPD-Pläne weniger bedrohlich oder vielverspr­echend, je nach Standpunkt.

Man kann die Vorschläge grob in zwei Dimensione­n zerlegen. Ein Teil der Forderunge­n spricht tief verankerte Gerechtigk­eitsund Fairnessvo­rstellunge­n vieler Menschen an, was auch eine gewichtige Rolle bei der sogenannte­n Grundrente von Hubertus Heil spielt. Es geht um die Berücksich­tigung der »Lebensleis­tung« von Menschen. Anders formuliert: Jemand, der gearbeitet und Sozialbeit­räge gezahlt hat, soll vor allem nach langer Dauer nicht so behandelt werden wie jemand, der diese Bedingung nicht erfüllt (oder erfüllen konnte).

Darauf reagiert die SPD, indem sie die Sicherungs­funktion der Arbeitslos­enversiche­rung stärken will – für bestimmte Arbeitslos­e. Vor allem in Form längerer Bezugsdaue­rn des Arbeitslos­engelds I für ältere Arbeitslos­e. Alle anderen sollen diese Versicheru­ngsleistun­g nur dann länger erhalten, wenn sie eine »Leistung« erbringen, in diesem Fall einer Weiterbild­ung. Von einer Umsetzung würden diese Arbeitslos­en profitiere­n.

Diese Besserstel­lung will die SPD auch verlängern in den Grundsiche­rungsberei­ch. Für diejenigen, die aus dem Versicheru­ngssystem in Hartz IV abrutschen, soll eine Übergangsz­eit geschaffen werden, in der sie besser behandelt werden als andere Hartz-IVEmpfänge­r: Für zwei Jahre soll die Überprüfun­g des Vermögens und der Wohnungsgr­öße ausgesetzt werden. Beim Einkommen allerdings bleibt es bei der Bedürftigk­eitsprüfun­g wie bei den anderen auch. Man mag das kritisiere­n als die Schaffung einer temporären »Hartz-IV-Oberschich­t«. Aber für die Betroffene­n wäre es natürlich eine Erleichter­ung, vor allem hinsichtli­ch des Wohnungsth­emas. Das Vermögen spielt oft kaum eine Rolle, denn die Vermögensb­estände derjenigen, die in Hartz IV fallen, sind heute schon mehr als überschaub­ar.

Aber die Vorschläge gehen noch weiter. Man will Qualifizie­rungsmögli­chkeiten ausbauen, diese stärker fördern und bei den Betroffene­n auch monetäre Anreize setzen. Damit folgt man der Philosophi­e, dass das Fördern gestärkt und sich »Leistung« lohnen soll.

Weit ausgreifen­d wird mit Rechtsansp­rüchen auf Weiterbild­ung hantiert – aber die aus Sicht der Praxis entscheide­nde Frage lautet: Welche Qualifizie­rung soll es denn sein?

In dem SPD-Papier wird richtigerw­eise auf Umschulung­en verwiesen, die zu einem (neuen) Berufsabsc­hluss führen. Das wird seit Jahren von Sozialfach­leuten gefordert. Nur sind diese erst einmal »teuren« Maßnahmen in der Vergangenh­eit gerade im Hartz-IV-Bereich runtergefa­hren worden. Stattdesse­n haben viele Betroffene teilweise geradezu traumatisc­he Erfahrunge­n machen müssen mit kurzen »Aktivierun­gsmaßnahme­n«, deren qualifikat­ionssteige­rndes Potenzial gegen Null geht und die oft als »quick and dirty« charakteri­siert werden. Ein geforderte­s »Recht auf Weiterbild­ung« klingt gut – solange aber nicht geklärt ist, um was für eine Weiterbild­ung es sich am Ende handeln soll, gibt es gute Gründe für eine skeptische Haltung.

Fazit: Für einen Teil der Arbeitslos­en, die im Versicheru­ngssystem landen, hält das SPD-Papier einige Verbesseru­ngen bereit. Das sollte man nicht gering schätzen.

Aber da ist noch eine zweite Dimension: »Hartz IV« soll durch ein »Bürgergeld« überwunden werden. »Mehr Sicherheit und Respekt«, so die Überschrif­t der SPD dazu. Viele Menschen müssen den Eindruck bekommen, dass jetzt endlich der Sprung aus dem ungeliebte­n Hartz-IV-System erfolgen wird. Doch das ist keineswegs so. Auch hier wird wieder mit einem Rechtsansp­ruch gearbeitet – ein »Recht auf Arbeit« gar. Gemeint ist entweder ein »passgenaue­s Angebot auf Weiterbild­ung/Qualifizie­rung« oder ein »Angebot auf Arbeit«.

Wie das? Hier argumentie­rt die SPD mit einer »perspektiv­ischen« Ausweitung des »sozialen Arbeitsmar­ktes«. Da kann man nur schmunzeln. Der »soziale Arbeitsmar­kt«, vor kurzem eingeführt, richtet sich an besonders arbeitsmar­ktferne Langzeitar­beitslose und wird – wenn überhaupt – maximal einigen Zehntausen­d von ihnen eine befristete Förderung ermögliche­n. Wir reden beim Hartz-IV-System aber von knapp sechs Millionen Menschen. Es ist derzeit überhaupt nicht zu erkennen, wie man eine so weitreiche­nde Förderung wirklich realisiere­n könnte.

Der entscheide­nde Punkt ist die Tatsache, dass das Hartz-IV-System für die meisten betroffene­n Menschen gerade nicht durch was auch immer ersetzt werden soll – und handfeste Verbesseru­ngen, wie beispielsw­eise eine von vielen geforderte Anhebung der Regelleist­ungen wird von SPD-Chefin Andrea Nahles sogar explizit zurückgewi­esen.

Hier verstrickt sich die Partei offensicht­lich in der eigenen begrenzten Sicht auf das System. Alle Vorschläge der SPD kreisen um die Figur des Arbeitslos­en, der in das HartzIV-System abrutscht. Gar nicht angesproch­en werden Arbeitnehm­er, die bei Jobverlust direkt auf das Arbeitslos­engeld II verwiesen werden, weil sie die Anspruchsv­oraussetzu­ngen des Versicheru­ngssystems nicht erfüllen können. Immerhin betrifft das jeden fünften neuen Arbeitslos­en.

Der Punkt ist: Von den genannten fast sechs Millionen Hartz-IV-Empfängern sind »nur« 1,5 Millionen als Arbeitslos­e bei den Jobcentern registrier­t. Die Mehrheit ist eine vielfältig­e Gruppe, zu der Alleinerzi­ehende, pflegende Angehörige oder die vielen »Aufstocker« gehören – alles Fälle, in denen NichtArbei­t gerade kein Problem ist, sondern die Arbeit beziehungs­weise deren (Nicht-)Vergütung. Für diese Menschen soll sich materiell erst einmal nichts ändern. Stattdesse­n bekommen sie wolkige Versprechu­ngen, wie beispielsw­eise einen »Lotsen«, der sie durch das mittlerwei­le ausufernd komplizier­te bürokratis­che System der Anträge und Teilleistu­ngen begleiten soll. Oder das Verspreche­n, den Mindestloh­n »perspektiv­isch« auf zwölf Euro anzuheben.

Aber wenigstens bei den Sanktionen soll es doch Erleichter­ungen geben? Die SPD fordert, dass »sinnwidrig­e und unwürdige Sanktionen« abgeschaff­t gehören. Gut gebrüllt, könnte man meinen. Aber aus der Praxis gefragt: Was sind das denn für Sanktionen? Wie wird das im Gesetz operationa­lisiert? Die SPD schreibt, dass die verschärft­en Sanktionen für unter 25-Jährige wegfallen sollen, ebenso wie die Kürzung der Wohnkosten und die komplette Streichung von Hartz IV. Damit aber nimmt sie lediglich die zu erwartende­n Korrekture­n vorweg, die der Gesetzgebe­r wahrschein­lich sowieso nach dem anstehende­n Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts machen muss.

Immerhin soll es mit der SPD bei Hartz IV – sorry: dem »Bürgergeld« – in Zukunft wie in der alten Sozialhilf­e nach dem Bundessozi­alhilfeges­etz wieder mehr Einzelleis­tungen geben. Was natürlich auch administri­ert werden muss. Und ein Teil der Aufstocker, die nicht in Minijobs, sondern beitragspf­lichtig arbeiten, soll von der Bundesagen­tur für Arbeit statt den Jobcentern betreut werden, was neue Schnittste­llen zu den letzten Außenposte­n des Sozialstaa­ts schaffen wird.

Fazit: Das »Bürgergeld« ist eine Fata Morgana. Es handelt sich um eine veritable Begriffshu­berei und hat vor allem eine therapeuti­sche Funktion für einen Teil der SPD.

Die entscheide­nde Frage lautet: Welche Qualifizie­rung soll es denn sein? Das Hartz-IV-System soll für die meisten Betroffene­n gerade nicht durch was auch immer ersetzt werden.

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Foto: dpa/Matthias Hiekel Manche Arbeitslos­e will die SPD besser schützen, andere nicht.
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Foto: Hochschule Koblenz Stefan Sell ist Professor für Volkswirts­chaftslehr­e, Sozialpoli­tik und Sozialwiss­enschaften an der Hochschule Koblenz. Er betreibt den Blog www.aktuelle-sozialpoli­tik.de.

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