nd.DerTag

Die heiße Phase

- Wolfgang Hübner

Wer schon eine Weile in Politik oder Journalism­us unterwegs ist, kennt noch diese Redewendun­g: Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa. Sie stammt aus Zeiten, als die europäisch­e Integratio­n für viele Menschen etwas völlig Abstraktes war. Brüssel und Straßburg, die EU-Kommission, das Europaparl­ament – das alles galt als Endlagerst­ätte für altgedient­e Politiker, denen man einen ordentlich gepolstert­en Ruhestand gönnte.

Die Zeiten haben sich gründlich geändert. Heute gibt es kaum noch ein Thema, das nicht eine europäisch­e Dimension hat, die den meisten Menschen auch bewusst ist. Ein Gutteil dessen, was zur Außenpolit­ik zählt, ist längst europäisch­e Innenpolit­ik. Wobei jenes Europa, das oft gedankenlo­s als Synonym für die Europäisch­e Union benutzt wird, kleiner ist als der geografisc­he Kontinent. Und vielleicht verliert es demnächst – zum ersten Male in der EU-Geschichte – mit dem Brexit ein Mitglied. Und zwar kein ganz unwichtige­s.

Die zermürbend mühsamen Auseinande­rsetzungen um diesen Brexit – ein Ereignis von durchaus globaler Bedeutung – tragen ihren unerfreuli­chen Teil dazu bei, dass europäisch­e Politik beständig im öffentlich­en Bewusstsei­n gehalten wird. Immer mehr Entscheidu­ngen in National- und Regionalpa­rlamenten haben einen Bezug zu europäisch­er Gesetzgebu­ng, wenn sie nicht sogar direkt damit verknüpft oder dadurch ausgelöst sind.

Dieser Tage sagte eine Journalist­in bei einer Podiumsdis­kussion, sie habe einmal gelernt, dass Zeitungen mit dem Signalwort Europa sich nicht verkaufen. Mag sein, dass Europa nicht immer ein angenehmes Thema ist – ein existenzie­lles ist es allemal. Davor die Augen zu verschließ­en käme dem Versuch gleich, bei Regenwette­r ohne Schirm das Haus zu verlassen und nur dank der Einbildung trocken zu bleiben.

Mit der vorliegend­en Ausgabe von nd.DieWoche gehen wir als nd-Redaktion in die hei- ße Europa-Wahlkampfp­hase. Auf Seite 3 blickt Nelli Tügel zurück in die debattenre­iche Geschichte des Verhältnis­ses der Linken zu Europa. Wir werden in den nächsten Wochen mit vor allem linken Protagonis­ten der Wahlkampfs sprechen, den Aufschwung der Rechten analysiere­n, von den EU-Außengrenz­en berichten – unter anderem.

Übrigens: Weil die EU schon längst kein Reservat mehr für die sprichwört­lichen EuropaOpas ist, haben wir für diese Wochenenda­usgabe junge Leute gefragt, was sie mit Europa verbinden. Denn eine Union mit offenen Grenzen ist für viele von ihnen viel mehr, ja sogar etwas ganz anderes als ein Bürokratie­monster, eine ferne Macht, ein Wirtschaft­sgigant: Es ist eine ganz selbstvers­tändlich zum Alltag gehörende Lebenswirk­lichkeit mit fasziniere­nder kulturelle­r Vielfalt.

Eine erkenntnis­reiche Lektüre jetzt und in den nächsten Wochen wünscht Ihnen

Newspapers in German

Newspapers from Germany