nd.DerTag

Eine Stimme des russischen Liberalism­us

Zum Tode der Aktivistin Ludmila Alexejewa

- Von Axel Eichholz, Moskau

Russlands Präsident Wladimir Putin schickte nach dem Tod der Bürgerrech­tlerin Ludmila Alexejewa am Samstag als einer der Ersten ein Beileidste­legramm an die Hinterblie­benen. Schon 2017 hatte er sie besucht und ihr persönlich zum 90. Geburtstag gratuliert. Alexejewa wusste genau, was diese »tief empfundene Anerkennun­g« wert war. Als der künftige Präsident erst zwei Jahre alt war, setzte sie sich schon für den verhaftete­n Schriftste­ller Juli Daniel ein. Als Putin 1977 Oberleutna­nt des KGB wurde und seinen Dienst im Leningrade­r »Bolschoj Dom« am Litejny Prospekt antrat, musste Alexejewa, der sonst Verhaftung durch den KGB drohte, die Sowjetunio­n verlassen. In den frühen 1980er Jahren schrieb sie im US-amerikanis­chen Exil an der Geschichte der Dissidente­nbewegung. Der künftige russische Präsident bildete sich zur selben Zeit an der Hochschule des KGB für seinen Einsatz bei der Auswärtige­n Aufklärung weiter.

Mit ihrer Rückkehr nach Russland 1993 nahm Alexejewa ihre Tätigkeit als Menschenre­chtlerin wieder auf. Auch als der Kreml sie in den Menschenre­chtsrat beim Präsidente­n berief, blieb sie eine kritische Stimme und bezeichnet­e die sich verschärfe­nde Lage von Menschenre­chtsorgani­sationen als eine Kampagne, die »auf den Fingerzeig des Präsidente­n« begonnen wurde. »Die politische­n Parteien haben sie bereits verschluck­t.« Weiter es in ihrer Er-

Nachfolger, die an Alexejewas Stelle treten könnten, sind kaum in Sicht. Das Putin-Regime schwächt gezielt zivilgesel­lschaftlic­he Kräfte.

klärung, dass aktuell verstärkt zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen, die sich mit der Politik nicht befassen, in den Fokus der Bürokratie rücke. Gegen diese Entwicklun­g setzte sich die Aktivistin zu Wehr, forderte die von der russischen Verfassung garantiert­e Versammlun­gsfreiheit ein und beteiligte sich selbst an Demonstrat­ionen – trotz wiederholt­er Arreste.

Ludmila Alexejewa war Gründungsm­itglied und Vorsitzend­e der Moskauer Helsinki-Gruppe. Nachfolger, die an ihre Stelle treten könnten, sind jedoch kaum in Sicht. Das Putin-Regime schwächt gezielt zivilgesel­lschaftlic­he Kräfte. So wurde die Nichtregie­rungsorgan­isation Memorial als »ausländisc­her Agent« gelistet. Von einer Entstalini­sierung ist heute keine Rede mehr.

Noch vor ihrem Ableben protestier­te Alexejewa gegen die Verurteilu­ng des Vorsitzend­en der Bewegung »Für Menschenre­chte« Lew Ponomarjow zu 25 Tagen Arrest. Dem 77-jährigen Dissidente­n wird vorgeworfe­n, eine nicht genehmigte Aktion am 28. Oktober auf dem Moskauer Lubjanka-Platz organisier­t zu haben. Da nach der russischen Verfassung Straßenver­anstaltung­en nicht genehmigun­gs-, sondern nur meldepflic­htig sind, kritisiere­n zahlreiche Politiker und Menschenre­chtler das Urteil als verfassung­swidrig. Nach Protesten wurde die Haftdauer für Ponomarjow um neun auf 16 Tage reduziert. Für den 16. Dezember hat er bereits einen »Friedensma­rsch gegen Gewalt« im Moskauer Stadtzentr­um beantragt. Dieser richtet sich vor allem gegen Polizeigew­alt und Folter. Menschenre­chtler sehen in Ponomarjow­s Inhaftieru­ng durch die Behörden den Versuch, den bevorstehe­nden Friedensma­rsch zu vereiteln.

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