In die Zuschauerfresse
Nietzscheanisches Kino: Mit seinem Film »Climax« stellt sich Gaspar Noé in die Tradition des europäischen Skandalfilms
Gründe, diesen Film präventiv nicht zu mögen, gibt es genug. Seit seinem ersten Langfilm »Menschenfeind« setzt Gaspar Noé auf Zuschauerattacke. An sich ist das keine Schande, allerdings taten der zwanghaft provokative Gestus und die spürbare Beflissenheit, die es brauchte, um sich nach der Jahrtausendwende noch als maximal krasser, schockierender Filmkünstler zu gerieren, den Bildern nicht immer gut. Tiefsinnig anmutende Texteinblendungen wie zum Beispiel »Time destroys everything« am Ende seines Films »Irreversibel« konnten nicht kaschieren, dass hier jemand erst einmal austeilte: Gewalt, Drogen, sexualisierte Gewalt, Inzest, wieder Gewalt, ununterbrochen. Die Idee: Immer in die Zuschauerfresse.
In »Menschenfeind« und »Irreversibel« hat Gaspar Noé versucht, mit visuellen und auditiven Mitteln die kategorische Grenze zu touchieren, die eine ästhetische Erfahrung von der Körperverletzung trennt. Das war effektiv – und, jetzt mal sprichwörtlich gesprochen, keine Kunst, trotz aller Virtuosität. Wenn man gefühlte sechs Stunden lang Wirbelkamera, fiese Subbässe, hyperrealistischen Splatter und brüllend laute Schmerzensschreie über sich ergehen lassen muss, wird einem halt übel, überraschend ist das nicht.
Noés neuer Film, »Climax«, hat mich aber voll erwischt. Also noch einmal anders als sonst. Mit Nachdruck. Unangenehm, aber beeindruckend in einem nicht ohne Weiteres beschreibbaren Sinn. Dabei hatte ich mir fest vorgenommen, mich zu ärgern. Was ist anders dieses Mal? Auf den ersten Blick nicht viel. Die bekannten Versatzstücke sind alle da: die bewegliche Kamera, die improvisierten Dialoge, die Lautstärke, ein rot ausgeleuchteter Durchgang als Hinweis auf die kinematografische Hölle, in der die Körper der Figuren kaputtgemacht werden. Die Menschen fungieren bei Noé zuerst als etwas vor der Kamera zu Zerstörendes (»Love«, 2015, ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme).
In »Climax« dreht die Kamerabewegung aber nicht mehr frei, um einen Würgereiz beim Zuschauer herzustellen, sondern wird zum konstitutiven Teil einer der vitalistischsten Choreografien der Filmgeschichte. Und getanzt wird viel in der ersten Filmhälfte, bevor alles sich auflöst und schrecklich wird. Und eigentlich auch dann noch.
Der Plot ist schnell erzählt: Ein Tanzensemble feiert nach einer Probe, in die Bowle hat jemand heimlich LSD gemischt; eine knappe Stunde Filmzeit später nur noch Paranoia, Verzweiflung und Gewalt. Am Ende kommen Uniformierte und sammeln ein, was von den Tänzerinnen und Tänzern noch übrig ist.
Bei aller Grausamkeit sind die Bilder in »Climax« nicht schwer und niederdrückend, sondern von einer Lebendigkeit, die dem, was man da sieht, irritierend widerspricht. Man merkt den Bildern die Lust am eigenen Medium an, an der Möglichkeit, die Bewegungen der gefilmten Körper durch die technischen Möglichkeiten zu intensivieren. Und Noé operiert nicht mehr – nicht mehr nur – mit dem Vorschlaghammer. Die Kamera kann mit einem Mal ausweichen, anstatt draufzuhalten, wenn jemand in Flammen aufgeht. Auch was mit dem Kind, das das Gleiche getrunken hat wie die Erwachsenen, in der dunklen Kammer geschieht, hört man nur und muss es nicht sehen.
Den transgressiven Gestus hat Gaspar Noé sich erhalten. Gleich zu Anfang werden per Bildzitat die Referenzen aufgerufen, die implizit mitschwingen: Andrej Zulawskis »Posession« beispielsweise, Pasolinis »Salò« oder »Suspiria« von Dario Argento. Damit stellt sich Noé nun dezidiert und selbstbewusst in die Tradition des europäischen Skandalfilms, und er verhebt sich dabei zum ersten Mal nicht. »Climax« entfaltet eine Affektintensität, die man nicht oft erlebt auf einer Leinwand.
Den Bezug zu den Denktraditionen, die die vorbildhaften filmischen Überschreitungsversuche unterfüttern, hat Noé allerdings gekappt. Auch »Climax« weiß, dass die Zerstörung schon angelegt ist in der Normalität und nichts den Figuren Äußerliches ist. Sie ist nur bislang weitgehend unbemerkt geblieben und erscheint als Normalität. Aber wo Zulawski und Argento von der Psychoanalyse infiziert waren, erscheinen die Menschen bei Noé nur noch als Trieb- und im letzten Filmdrittel als Gewaltmaschinen. Da wirkt, bei all der mitreißenden Erweiterung der filmischen Möglichkeiten, ein sehr enges, beengendes Bild von erster und zweiter Natur im Hintergrund.
Das Tanzensemble ist ein bereits schwer auszuhaltender Mikrokosmos, auch ohne Halluzinogene – Eitelkeiten, Narzissmus, Selbstoptimierung und -zurichtung, Konkurrenzterror und eine Sexualität, die amalgamiert ist mit Gewalt und gekennzeichnet durch die Instrumentalisierung des anderen.
Das alles kennt man in weniger konzentrierter Form aus der Welt außerhalb des Kinos. Noé zeigt, in dem er das, was er zeigt, maximal verdichtet ins Extrem treibt. Das ist das Konstruktionsprinzip dieser Filme. Und ab dem Moment, in dem Gaspar Noé nicht mehr nur draufhaut, kann er nun mit einem Mal zeigen, was ihn offenbar ernsthaft umtreibt: wie sich die Auflösung des Sozialen in der Gewalt, der schockhafte Bruch mit den zivilisatorischen Sicherheiten so intensiv wie möglich inszenieren lässt.
Der Narzissmus, den die Filme Gaspar Noés auf mich abstrahlen – auch in diesem Fall wieder –, findet vielleicht vor allem hier seinen Grund: Noés Bilder wissen, wie man Intensität erzeugt; aber weil sie nicht wissen, mit was für einer Welt sie es jenseits der Leinwand eigentlich zu tun haben (und sich dafür eventuell auch gar nicht allzu sehr interessieren), laufen sie immer wieder auf schriftliche Plattitüden zu – »Time destroys everything«. Die zwei Sinnsprüche aus »Climax« habe ich bereits vergessen. Ich zitiere stattdessen Adorno, nämlich den Satz zum Mangel und zur Grandiosität von Nietzsches Philosophie: dass er wie kaum ein anderer »bei den Menschen auf den Grund dessen geschaut hat, was sie geworden sind, aber nicht der Gesellschaft auf den Grund geschaut hat, die sie dazu gemacht hat«. So in etwa verhält es sich auch mit den Filmen Gaspar Noés. Ein in diesem Sinne nietzscheanisches Kino.
Vielleicht würde ein genauerer Blick auf die Welt jenseits der Leinwand schlicht die Intensitätsfabrikation blockieren, die der eigentliche Zweck der ganzen Unternehmung ist. In der mit ihr verbundenen Selbstberauschtheit haben Noés Filme immer wieder auch etwas Masturbatorisches. Nichtsdestotrotz: Vielleicht ist es gerade ihre Unterkomplexität, die es ihnen intuitiv immer wieder erlaubt, spürbar werden zu lassen, was Menschen einander antun können. Widerstand gegen das Schlechte hat Noé noch nie interessiert, jedenfalls hat den in seinen Filmen noch nicht einer versucht. Und das Publikum kann da auch nicht mehr viel machen; nach dem Abspann ist man schlicht zu geschafft und fertig mit den Nerven.
»Climax«, Frankreich 2018. Regie/ Buch: Gaspar Noé; Darsteller: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Souheila Yacoub. 95 Min.
Ein rot ausgeleuchteter Durchgang ist ein Hinweis auf die kinematografische Hölle, in der die Körper der Figuren kaputtgemacht werden. Die Menschen fungieren als etwas vor der Kamera zu Zerstörendes. »Man hat oft gesagt, mit Gewalt lasse sich nichts beweisen. Das hängt jedoch davon ab, was man beweisen will.« Oscar Wilde