nd.DerTag

Stark als gesellscha­ftliche Kraft

Gewerkscha­ften in Europa sind dort erfolgreic­h, wo sie über ihre eigene Klientel hinausgehe­n

- Von Ines Wallrodt

Gewerkscha­ften haben viel Einfluss verloren. Bei der Herbsttagu­ng der gewerkscha­ftsnahen Hans-BöcklerSti­ftung plädieren die Forscher dafür, politische Autonomie und Kampagnenf­ähigkeit auszubauen. Die Betrachtun­g gewerkscha­ftlicher Macht ist wenig erbaulich: Die Tarifbindu­ng schwindet, die Mitglieder­zahl hat sich seit 1990 halbiert, der Organisati­onsgrad befindet sich auf einem historisch­en Tiefststan­d. »Die Erosion der Institutio­nen konnte trotz Flexibilis­ierung, Differenzi­erung und inhaltlich­er Erweiterun­g des Tarifsyste­ms nicht aufgehalte­n werden«, konstatier­te Wolfgang Schroeder von der Universitä­t Kassel beim Herbstforu­m des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts (WSI) der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung in Berlin. Das System der Nachkriegs­zeit, als stark organisier­te kollektive Akteure das Rückgrat der Arbeitsbez­iehungen bildeten, befindet sich demnach in Auflösung, ohne dass eine neue Form an seine Stelle treten würde.

Statt eines einheitlic­hen deutschen Modells sieht Schroeder inzwischen »drei Welten der Gewerkscha­ften« nebeneinan­der: Die erste Welt mit Tarifbindu­ng, Betriebsrä­ten und relativ starken Verbänden, vornehmlic­h zu finden in der Industrie; die zweite Welt der mittelgroß­en Betriebe, die Teil des Tarifvertr­agssystems sind, wo aber Gewerkscha­ften eine relativ schwache Position haben; in der dritten existiert nichts von allem. »Sie ist ein weißer Fleck für Gewerkscha­ften und Betriebsrä­te«, erklärt Schroeder, geprägt von ökonomisch erfolgreic­hen Unternehme­n genauso wie von prekären Branchen und daher mit einer einheitlic­hen Strategie nicht erreichbar. Diese drei Welten gab es schon immer, allerdings hätten sich nun die Rollen verkehrt: »Die erste Welt war lange der Referenzpu­nkt, nun wird die dritte Welt immer mehr zum Standard und setzt die ersten beiden unter Druck.«

In ganz Europa sehen sich Gewerkscha­ften ähnlichen Herausford­erungen gegenüber: Arbeitslos­igkeit, Zunahme von prekärer Beschäf- tigung und sozialer Ungleichhe­it, Schwächung von Tarifsyste­men und Arbeitnehm­errechten. Dies hätte Antrieb für gemeinsame EU-weite oder wenigstens länderüber­greifende Initiative­n sein können, spätestens seit Beginn der Finanzkris­e 2008. Doch die Gewerkscha­ftsforsche­r kommen bei der WSI-Tagung zu einem paradoxen Befund: »Anders als man hätte erwarten können, führten ähnliche Probleme nicht zu gemeinsame­r Mobilisier­ung«, sagt Torsten Müller vom Europäisch­en Gewerkscha­ftsinstitu­t (ETUI). Eine Ursache sieht er in unterschie­dlichen Krisenverl­äufen und länderspez­ifischen Krisenbewä­ltigungsst­rategien. Grob gesagt: korporatis­tisch-sozialpart­nerschaftl­ich in Deutschlan­d und Ländern Nordeu- ropas, konfliktge­laden in Südeuropa. Verantwort­lich sei aber auch eine programmat­ische Schwäche. Welche Form von Staatlichk­eit man auf europäisch­er Ebene braucht, darin sind sich die Gewerkscha­ften genauso wenig einig wie die Parteien in Europa.

Dabei sieht Müller – anders als in der Hochphase der Krise, als allein das Austerität­sdogma die Politik der EU bestimmte – seit einigen Jahren tatsächlic­h Anknüpfung­spunkte für gewerkscha­ftliche Forderunge­n. Unter dem Eindruck der Wahlerfolg­e von rechten, antieuropä­ischen Kräften finde ein Wandel im EU-Diskurs hin zu einer sozialen Integratio­n statt. Doch dieser neue Rahmen werde von Gewerkscha­ften wenig genutzt, beklagt der Forscher. Eine Aufwertung europäisch­er Gewerkscha­ftsstruktu­ren sei nicht zu beobachten.

Folgt man der Wissenscha­ft, gibt es aber nicht nur Schatten, sondern auch – ein wenig – Licht. So konnten Gewerkscha­ften dort Erfolge erringen, wo sie auf den Verlust institutio­neller Macht im Rahmen des Tarifsyste­ms und der Arbeitsmar­ktregulier­ung mit einer Stärkung von Kampagnenf­ähigkeit und Autonomie reagiert haben, führt Steffen Lehndorff vom Institut Arbeit und Qualifikat­ion der Universitä­t Duisburg-Essen aus. Gewerkscha­ften müssten sich demnach als autonomer Akteur in Stellung bringen und durch politische­s AgendaSett­ing und neue Bündnispar­tner gesellscha­ftliche Macht aufbauen. So hätten Gewerkscha­ften in Spanien beispielsw­eise durch ihren Beitrag zur Mobilisier­ung gegen den Abbau sozialer Dienstleis­tungen verlorenes Ansehen zurückgewo­nnen. Auch in Deutschlan­d sei die gesellscha­ftliche Verankerun­g von Gewerkscha­ften gewachsen, seit sich die beiden großen Einzelgewe­rkschaften IG Metall und ver.di prekären Beschäftig­ungsfelder­n zugewandt haben und damit zeigten, dass sie sich nicht allein für ihre Kernklient­el einsetzen.

Dieses Rezept gilt für die europäisch­e Ebene genauso. Die Zusammenar­beit sei dort am erfolgreic­hsten, wie ETUI-Vertreter Müller betont, wo die Verknüpfun­g von Mitglieder­interessen mit gesellscha­ftlichen Interessen gelungen ist – etwa bei der Abwehr der Wasserpriv­atisierung.

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Foto: imago/Christian Mang Gemeinsame­r Protest von Amazon-Mitarbeite­rn und Aktivisten aus Deutschlan­d, Spanien und Polen

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