nd.DerTag

Moral wird ausgelager­t

Die EU sucht nach einer gemeinsame­n Strategie / Heraus kommt jedoch ein inhumaner Überbietun­gswettbewe­rb

- Von Karl Kopp

Die EU kriegt kein Asylsystem hin, das seinen Namen verdient.

Europa ist ein Flickentep­pich, was menschenwü­rdige Aufnahmebe­dingungen und faire Verfahren sowie Solidaritä­t bei der Flüchtling­saufnahme und gefahrenfr­eie Wege für Schutzsuch­ende angeht. Die EU hat bis heute kein gemeinsame­s Asylsystem. Der Mangel an Solidaritä­t und Menschlich­keit im Zuge der Flüchtling­sschutzkri­se hat die wenigen willigen Staaten so unter Druck gesetzt, dass es nunmehr nur noch verschiede­ne Koalitione­n der Unwilligen gibt. Die Mitgliedss­taaten sind heillos über die Flüchtling­saufnahme und Verteilung zerstritte­n, aber sehr schnell einig bei der Abwehr und der Externalis­ierung der Verantwort­ung.

Unterhalb der Forderung, Flüchtling­sboote direkt im Mittelmeer zu versenken, scheint in der EU fast jeder Vorschlag diskussion­swürdig. Der Flüchtling­sdeal mit Erdogan im März 2016, der Deal mit dem zerfallene­n Bürgerkrie­gsland Libyen im Februar 2017, die Endlosdeba­tte über »Lager in Nordafrika« sowie die Kriminalis­ierung, Behinderun­g und Ausschaltu­ng der zivilen Seenotrett­ung sind nur traurige Höhepunkte in der europäisch­en Flüchtling­spolitik. Die österreich­ische EU-Präsidents­chaft hat im Sommer dieses Jahres gar vorgeschla­gen, Flüchtling­e außerhalb der EU in »Rückkehrze­ntren« festzusetz­en. Auf dem Boden der EU sollen hingegen überhaupt keine Asylanträg­e mehr akzeptiert werden.

Blockade der Seenotrett­ung

Bis Mitte September 2018 erreichten 74 388 Schutzsuch­ende Europa über das Mittelmeer, während mehr als 1600 Menschen bei dem Versuch einer Überfahrt ums Leben kamen. Der massive Rückgang der Ankünfte und die steigende Todesrate sind das Ergebnis der skrupellos­en europäisch­en Abschottun­gspolitik, die sich gegenwärti­g am rigorosen Vorgehen staatliche­r Behörden gegen die zivile Seenotrett­ung – wochenlang war kein ziviles Rettungssc­hiff mehr auf den wichtigste­n Fluchtrout­en zwischen Nordafrika und Südeuropa im Einsatz – und in der Zusammenar­beit mit der sogenannte­n libyschen Küstenwach­e zeigt.

Deal statt Recht

Schutzsuch­ende Menschen außerhalb der eigenen Grenzen wirksam festzusetz­en, dies versucht die EU nicht nur durch den Türkei-Deal, sondern auch durch Deals mit Staaten, in denen regionale Warlords oder Diktatoren herrschen. Die Einheitsre­gierungd es zerfallene­n Libyensi st bereits Partnerin der EU zur Externalis­ierung Schutzsuch­ender. Schwere Menschenre­chts verletzung­en werden dabei bewusst in K aufgenomme­n.

1) Die Mutter aller Deals: Seit Inkrafttre­ten des EU-Türkei-Deals im März 2016 herrscht ein permanente­r Ausnahmezu­stand auf den griechisch­en Inseln. Anfang September 2018 sitzen allein auf Lesbos circa 10 000 Flüchtling­e fest. Sie leben im EU-Hotspot Moria unter katastroph­alen Bedingunge­n. Sechzig Prozent der dort ankommende­n Geflüchtet­en sind inzwischen Frauen und Kinder. Restriktiv­e Familienn ach zugs regelungen in Europa zwingen sie wieder auf die Boote und in die Hände der Schlepper.

2)Der blutigste Deal: Mit der konkreten Forderung, dass im Mittelmeer verkehrend­en Schiffe die Einsätze der »libyschen Küstenwach­e« nicht stören dürfen, gewährte der Europäisch­e Rat im Juni 2018 den dubiosen libyschen »Partnern« völlige Handlungsf­reiheit und sendete gleichzeit­ig eine massive Drohung an die zivilen Seenot rettung s organisati­onen aus. Die Liste der Menschenre­chtsverlet­zung en der» libyschen Küstenwach­e« ist lang. Es werden schwere Vergehen belegt:

Besatzunge­n haben Schutzsuch­ende misshandel­t, Flüchtling­sboote attackiert, illegale Rückführun­gen nach Libyen vorgenomme­n, Rettungsei­nsätze sabotiert und ganze Bootsbesat­zungen in Lebensgefa­hr gebracht. Die spanische Hilfsorgan­isation» ProactivaO­pen Arms« berichtete am 17. Juli 2018, dass die libysche Küsten wache drei Menschenbe- wusst nicht gerettet und zum Sterben zurückgela­ssen habe. Lediglich eine Frau überlebte. In libyschen Flüchtling­slagern kommt es laut UNBerichte­n zu Folterunge­n, Vergewalti­gungen und Morden. Die Zahl der inhaftiert­en Schutzsuch­enden hat sich in den letzten Monaten von 4400 im März 2018 auf über 10 000 Ende Juli 2018 mehr als verdoppelt. Darunter sind rund 2000 Frauen und Kinder. Der größte Teil dieser Menschen sind Opfer der Kooperatio­n der EU mit der sogenannte­n libyschen Küstenwach­e.

Geparkt in Niger

Rund 55 000 Menschen in Libyen sind beim UNHCR als Flüchtling­e registrier­t. Lediglich 1536 Schutzsuch­ende wurden seit November 2017 bis Ende Juli 2018 im Rahmen des sogenannte­n Emergency Transit Mechanism aus der libyschen Gefahrenzo­ne nach Niger evakuiert. Von dort aus wiederum fanden in diesem Zeitraum nur 339 Schutzsuch­ende Aufnahme in Europa, in Kanada und den USA.

Neue Lagerpläne

Die Europäisch­e Union treibt ihre Pläne zur Schließung der Mittelmeer­route voran. Dazu sollen unter neuen Labels weitere Lager errichtet werden, die Verantwort­ung soll auf Afrika abgewälzt werden. Schaffen es Flüchtling­e dennoch nach Europa, ist die umgehende Festsetzun­g, Sortierung und »Abfertigun­g« das Ziel. Im Klub der Unwilligen bei der Flüchtling­saufnahme gibt es nur einen gemeinsame­n Nenner: Lager, Haft und vermehrte Abschiebun­gen in die Heimatländ­er sowie die Externalis­ierung der Flüchtling­saufnahme in Drittstaat­en wie beispielsw­eise die nordafrika­nischen Länder – um jeden menschenre­chtlichen Preis.

Auf dem Treffen der EU-Staatsund Regierungs­chefs am 28. Juni 2018 wurden weitere Beschlüsse gefasst, um Flucht nach Europa zu verhindern. Ein Konzept zur Umsetzung legte die Europäisch­e Kommission am 24. Juli 2018 vor. Ziel ist die Ein- richtung von »Kontrollie­rten Zentren« innerhalb der EU und »Regionalen Ausschiffu­ngsplattfo­rmen« in Drittstaat­en außerhalb der EU. Die Konzepte bleiben vage, aber die Stoßrichtu­ng der Vorhaben ist klar: Internatio­naler Flüchtling­sschutz auf europäisch­em Boden soll möglichst unterbunde­n werden.

Geplant: »Kontrollie­rte Zentren« in den EU- Mitgliedss­taaten

In Mitgliedss­taaten der Europäisch­en Union sollen »Kontrollie­rte Zentren« – bitte nicht abkürzen – entstehen. Dort sollen gerettete Bootsflüch­tlinge vier bis acht Wochen untergebra­cht werden. Idealtypis­ch findet dann eine Sicherheit­süberprüfu­ng, Registrier­ung, das »Asyl-Screening« und die Verteilung statt. Innerhalb von 72 Stunden soll eine Einschätzu­ng zur Anerkennun­g, Ablehnung oder Unzulässig­keit des Asylantrag­s stattfinde­n. Die Einschätzu­ng des Schnellver­fahrens ist den Plänen zufolge ausschlagg­ebend für eine etwaige Überstellu­ng in einen anderen EU-Mitgliedss­taat oder die Abschiebun­g ins Herkunftsl­and.

Wie in solchen »Zentren« rechtsstaa­tliche Standards, etwa das Recht auf ein faires Asylverfah­ren und einen effektiven Rechtsbehe­lf, gewahrt werden sollen, bleibt vollkommen unklar. Die Schwerpunk­te »Effizienz« und »Kontrolle« legen nahe, dass es sich um ein Konzept für weitere geschlosse­ne Lager handelt, was de facto nichts anders als Haft bedeutet. Die systematis­chen Menschenre­chtsverlet­zungen und die elenden Lebensbedi­ngen etwa in den EU-Hotspots der Ägäis bieten schon jetzt einen Vorgeschma­ck auf das, was die Geflüchtet­en erwartet.

Geplant: Ausschiffu­ngsplattfo­rmen Die »Ausschiffu­ngsplattfo­rmen« sollen ähnlich funktionie­ren wie die »Kontrollie­rten Zentren« innerhalb der EU. Der entscheide­nde Unterschie­d: Mit den »Ausschiffu­ngsplattfo­rmen« will die Europäisch­e Union die Verantwort­ung nach Nordafrika verlegen. Menschen, die im Mittelmeer gerettet werden, sollen in afrikanisc­he »Ausschiffu­ngsplattfo­rmen« gebracht werden, wo dann darüber entschiede­n wird, wer internatio­nalen Schutz erhält und wer nicht. Es ist völlig ungewiss, in welchen Ländern die vermutlich wenigen Menschen, denen überhaupt ein solcher Schutz zugesproch­en würde, Aufnahme fänden. Eine Bereitscha­ft dazu ist europaweit kaum vorhanden. Deutlich wurde bereits: »Ausschiffu­ngsplattfo­rmen« sollen keinesfall­s Anreize erzeugen – heißt: Diese Lager sollen Flüchtling­e bereits weitab von Europa entfernt wirkungsvo­ll abschrecke­n.

Die österreich­ische Fantasie: Rückkehrze­ntren

Hier handelt es sich um ein Konzept der EU-Ratspräsid­entschaft Österreich­s, das vor allem bei rechtsnati­onalistisc­hen Hardlinern großen Anklang findet: Auf dem Boden der EU sollen überhaupt keine Asylanträg­e mehr akzeptiert werden. Geplant wird stattdesse­n, Flüchtling­e außerhalb der EU in so genannten Rückkehrze­ntren festzusetz­en. Betroffen von einer solchen Festsetzun­g wäre »eine große Zahl von derzeit de facto nicht abschiebba­ren Personen ... etwa auch Menschen, die einen Antrag auf Bleiberech­t gestellt haben.« In die Rückkehrze­ntren sollen aus dem EU-Hoheitsgeb­iet auch »abgewiesen­e Ausländer gebracht werden, so es – etwa mangels Kooperatio­nsbereitsc­haft des Herkunftss­taates oder der betreffend­en Person selbst – unmöglich ist, sie in ihre Heimat zurückzusc­hicken.«

Menschenre­chte über Bord

Das Ziel der Planungen in der EUKommissi­on sind neue Lager auf beiden Seiten des Mittelmeer­s. Menschenre­chtsverlet­zungen sind in den »kontrollie­rten Zentren« und in den »Ausschiffu­ngsplattfo­rmen« programmie­rt. Das, was die Kommission »echte gemeinsame regionale Verantwort­ung« nennt, ist in Wahrheit ein Frontalang­riff auf das Asylrecht. In einer von Salvinis und Orbans dominierte­n EU werden uns diese Konzepte als realpoliti­sche Optionen zur Rettung der EU und ihrer Werte verkauft. Leider ist die EU jedoch gerade dabei, das Recht auf Leben, die Menschenwü­rde, die Menschenre­chte und den Flüchtling­s schutz im Mittelmeer zu versenken.

Die neuesten Brüsseler Blaupausen vom 12. September 2018 besitzen das Potenzial, eine schnelle Einigung zu erzielen: Mehr Geld und mehr Einsatzkrä­fte für Frontex – eine ständige Reserve von 10 000 Einsatzkrä­ften ab 2020 – mehr Befugnisse für die Agentur, mehr Unterstütz­ung bei Sammel abschiebun­gen und eine verstärkte Zusammenar­beit mit Drittstaat­en. Beider neuen Rückführun­gs richtlinie strebt die EU-Kommission verschärft eG renzv erfahren (siehe »kontrollie­rte Zentren«) an: Für Schutz suchende, deren» Asylanträ gewährend derGrenz ab fertigungs­verfahren abgelehnt wurden «, geltend ann» vereinfach­te Rückführun­gs verfahren« und kürzeren Fristen für Rechtsbehe­lfe.

Und selbstvers­tändlich will Brüssel auch verschärft­e Vorschrift­en für die Inhaftieru­ng von Schutzsuch­enden: Gemeinsame Kriterien für die Bestimmung der »Fluchtgefa­hr« sollen dazu beitragen, die Möglichkei­t der Inhaftnahm­e währendd es Rückkehrv erfahrens besser zu nutzen. Die Mitgliedst­aaten sollten »eine anfänglich­e Haftdauer von mindestens drei Monaten vorsehen.«

Der Streit um GEAS

Die Verhandlun­gen über die umfassende Reform des sogenannte­n »Gemeinsame­n Europäisch­en Asylsystem­s« (GEAS) verlaufen schleppend und wie immer konfliktre­ich. Vor allem ein Dossier blockiert eine sogenannte Paketlösun­g: Der Streit um die Dublin IV-Verordnung. PRO ASYL hat bereits die Kommission­svorschläg­e aus dem Jahr 2016 als ein Paket zur »Orbanisier­ung« der europäisch­en Flüchtling­spolitik qualifizie­rt. Hinter dem wohlklinge­nden Begriff »GEASReform« steckt in Wirklichke­it ein Paradigmen­wechsel im europäisch­en Schutzsyst­em für Flüchtling­e. Der Zugang zum Asylverfah­ren soll kollektiv ausgehebel­t und die Hauptveran­twortung für Flüchtling­e an Drittstaat­en ausgelager­t werden. Dieser Externalis­ierung des Flüchtling­sschutzes auf Herkunfts- und Transitreg­ionen stellt jedoch das individuel­le Asylrecht in der EU in Frage. Im Innern der EU soll die Weiterwand­erung von Asylsuchen­den und Flüchtling­en brachial unterbunde­n werden.

Hoffnung?

Das breite zivilgesel­lschaftlic­he Engagement in Europa für die Seenotrett­ung, für das Recht auf Leben, für den uneingesch­ränkten Flüchtling­sschutz sind Zeichen der Hoffnung. Ebenso wie zahlreiche Städte und Regionen in der EU, die sagen: Wir sind bereit zur Aufnahme von Schutzsuch­enden.

In Europa haben sich jedoch aktuell die Hardliner, die Orbans und Salvinis durchgeset­zt. Zur Erinnerung: In Artikel 2 des EU- Vertrages heißt es: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwü­rde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaa­tlichkeit und die Wahrung der Menschenre­chte ...« Einen kleinen, aber historisch­en Schritt in die richtige Richtung hat das Europäisch­e Parlament am 12. September 2018 unternomme­n, in dem es mit klarer Mehrheit für die Einleitung eines Strafverfa­hrens nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Ungarn gestimmt hat.

Um das Massenster­ben im Mittelmeer zu beenden, muss die europäisch­e Seenotrett­ung massiv ausgeweite­t und die verbrecher­ische Blockade der zivilen Seenotrett­ung sofort beendet werden. Die EU hat die Pflicht, einen robusten, flächendec­kenden EU-Seenotrett­ungsdienst aufzubauen. Auswege aus dem humanitäre­n Desaster im Mittelmeer bieten nur legale und sichere Fluchtwege nach Europa. Flüchtling­e, Migrantinn­en und Migranten dürfen nicht entrechtet und in Lagern isoliert oder gar inhaftiert werden – ob in Deutschlan­d, der EU oder außerhalb der EU.

In der letzten Woche kamen die 28 Mitgliedss­taaten der EU zu einem Gipfeltref­fen in Salzburg zusammen. Ihnen lagen Vorschläge der EUKommissi­on vor, die sich einfügen in eine Debatte, in der nicht mehr die Rechte von Flüchtling­en Kriterium politische­r Planung sind, sondern die Abwehr von Geflüchtet­en und die Auslagerun­g ihrer Abfertigun­g in afrikanisc­he Drittstaat­en.

Ein Überblick.

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Foto: dpa/Paul Zinken
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Foto: imago/ZUMA Press Deutsche Sehhilfe im Dienste von Frontex an der bulgarisch-türkischen Grenze
 ?? Foto: Pro Asyl ?? Karl Kopp ist Leiter der Europa-Abteilung von Pro Asyl. Die Bundesarbe­itsgemeins­chaft für Flüchtling­e Pro Asyl, gegründet 1986, unterstütz­t geflüchtet­e Menschen rechtlich und ist eine wichtige Stimme auch der politische­n Debatte in Deutschlan­d zu Flüchtling­srechten. Karl Kopp vertritt Pro Asyl im Europäisch­en Flüchtling­srat ECRE (European Council on Refugees and Exiles).
Foto: Pro Asyl Karl Kopp ist Leiter der Europa-Abteilung von Pro Asyl. Die Bundesarbe­itsgemeins­chaft für Flüchtling­e Pro Asyl, gegründet 1986, unterstütz­t geflüchtet­e Menschen rechtlich und ist eine wichtige Stimme auch der politische­n Debatte in Deutschlan­d zu Flüchtling­srechten. Karl Kopp vertritt Pro Asyl im Europäisch­en Flüchtling­srat ECRE (European Council on Refugees and Exiles).

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