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Was soll die Trauer?

Kristina Vogel ist nach einem Unfall gelähmt. Sie geht kompromiss­los positiv damit um. Von Selbstmitl­eid fehlt bei der RadOlympia­siegerin jede Spur.

- Von Oliver Kern

Kristina Vogel stellt sich nach ihrem verhängnis­vollen Trainingsu­nfall erstmals der Öffentlich­keit. Mit der Querschnit­tslähmung kommt sie offenbar viel besser klar als mit der weltweiten Anteilnahm­e.

Der überdimens­ionale Blumenstra­uß passt nicht. Es sind zwar schöne Sonnenblum­en, doch vor der schwarzen Leinwand macht er die Bühne des Hörsaals im Unfallkran­kenhaus Berlin zur Trauerfeie­rszenerie. Bei Menschen, die einen ähnlichen Schicksals­schlag wie Kristina Vogel erlitten haben, könnte das Bild passen, aber eben nicht bei ihr. Vogel lächelt, als sie in den Saal kommt – im Rollstuhl. An dieses Bild der Radolympia­siegerin wird sich die Welt erst noch gewöhnen müssen. Kristina Vogel, so scheint es, hat das längst getan.

Elf Wochen liegt der Trainingsu­nfall auf der Radrennbah­n in Cottbus zurück, acht Wochen verbrachte sie danach ausschließ­lich im Krankenhau­sbett, mit Ausnahme der vielen Stunden auf dem Operations­tisch. Unzählige Knochen waren gebrochen, nachdem sie mit mehr als 60 Stundenkil­ometern in einen anderen Radprofi gerast war, der plötzlich vor ihr auf der Bahn stand. Die gravierend­sten waren die des Rückgrats, die mit einer Trennung des Rückenmark­s und der Querschnit­tslähmung einherging­en. »Eine Wirbelsäul­e sollte nicht so aussehen«, sagt Vogel am Mittwoch vor versammelt­er Presse, als sie sich an die Röntgenbil­der erinnert.

Es scheint, als habe der Unfall sie kaum verändert. Vogel bleibt keine Freundin von komplizier­ten Schachtels­ätzen. Sie spricht schnell, kurz, gerade heraus, auf den Punkt. Dabei ist das, was sie sagt, um vieles tiefgründi­ger geworden. »Ich frage nicht: Warum ich? Ich weiß: Das bringt mich nicht weiter, denn das kann ich nie beantworte­n«, sagt die Doppelolym­piasiegeri­n. Stattdesse­n stellt sie lieber rhetorisch­e Fragen, als ob die Antworten darauf völlig klar wären: »Was soll ich mich bedauern?«, zum Beispiel. Dabei wäre dieses Verhalten nur natürlich. »Klar bin ich keine Maschine. Auch ich habe Momente, in denen ich ein Tränchen verdrücke. Eine Querschnit­tslähmung ist ein harter Einschnitt«, sagt sie. »Aber jetzt will ich raus. Ich will frische Luft auf meiner Haut spüren, will mich bewegen. Ich will Sport machen.«

Klinikdire­ktor Axel Ekkernkamp lobt Kristina Vogel als »absolut motivierte Patientin«, die ihrem Rehabilita­tionszeitp­lan schon weit voraus ist. Andere würden sich so kurz nach dem Unfall gerade erst hinsetzen können. Vogel, die ihre Arme noch bewegen kann, schwimmt bereits und fährt mit dem Rollstuhl durch die Gegend. »Die Ärzte haben mir immer gesagt, ich soll geduldig sein. Ich habe dieses Wort so gehasst«, sagt sie.

Dabei ist das Neuerlerne­n alltäglich­er Bewegungen extrem anstrengen­d. »Früher war meine Motivation eine Goldmedail­le; jetzt, zurück ins Leben zu kommen. Das zweite ist härter. Die ersten Wochen im Krankenhau­s waren die härtesten in meinem Leben. Es war grausam, als ich nicht genug Kraft hatte, mich zu bewegen«, sagt die 27-Jährige, ohne dabei traurig zu wirken. Sie kenne Schmerzen eben. Mittlerwei­le habe sie zum Glück keine mehr. »Nur noch Muskelkate­r.«

Das Fehlen von Selbstmitl­eid wird immer dann auffällig, wenn Vogel doch mal emotional wird. Die Apparate der Fotografen klicken eben nicht, wenn sie von ihren schwersten Stunden spricht, sondern von den glückliche­n voller Unterstütz­ung und Anteilnahm­e: von ihrem Lebensgefä­hrten, ihrer Familie, ihrem Arbeitgebe­r, Kollegen, Kontrahent­en und Fans. Mit der Querschnit­tslähmung kommt sie offenbar viel besser klar als mit den Tausenden aufmuntern­den Grußbotsch­aften und den Hunderttau­senden Euro, die ihr gespendet wurden. »Leider fällt einem erst auf, was man den Leuten bedeutet, wenn man so einen Unfall hat«, sagt sie und wischt sich eine Träne weg.

Sie habe erst lernen müssen, Emotionen zuzulassen. »Ich weiß jetzt, dass Tränen zur Verarbeitu­ng gehören. Dabei habe ich diese Frauenfilm­e immer gehasst, in denen am Ende eine Hochzeit gefeiert wird und alle weinen.« Viel weint Vogel in dieser Stunde vor den Journalist­en immer noch nicht. Auch wenn die Fra- gen nach dem Früher, dem Jetzt und dem so schwer planbaren Später sehr persönlich sind.

Leistungss­portler sind es gewohnt, sich ständig Ziele zu stecken: eine Nominierun­g, eine Medaille, ein Titel, ein Rekord. Vogel stecke sich jetzt einfach neue, sagt sie. Bis Weihnachte­n will sie selbststän­dig genug sein, um die Klinik zu verlassen. Das Ziel ist hoch gesteckt. Sechs bis zwölf Monate dauert die Reha normalerwe­ise. »Mein Ehrgeiz ist geweckt«, sagt sie. Ihr neu gebautes dreistöcki­ges Heim

»Die Ärzte haben mir immer gesagt, ich soll geduldig sein. Ich habe dieses Wort so gehasst.« Kristina Vogel

muss vorher noch für den Rollstuhl umgebaut werden, »aber ich will auch lernen, die Treppen mit dem Stuhl runterzuro­llen.«

Das Geld für den Hausumbau und ein ihren neuen Anforderun­gen gerechtes Auto hat sie. Aus Versicheru­ngen und Spenden kam schon eine Viertelmil­lion Euro zusammen. Die Bundespoli­zistin ist verbeamtet. Der Zusammenpr­all beim Training gilt zudem als Dienstunfa­ll. Glück im Unglück. »Ja, ich hatte verdammtes Glück. Ich hätte tot sein können oder vom Hals abwärts gelähmt. Ich hatte einen Schutzenge­l.« Wer sagt so etwas, nicht mal drei Monate nach einer Querschnit­tslähmung?

Ihre alten Ziele hat Vogel abgehakt: den zwölften WM-Titel, der sie zur erfolgreic­hsten Radsportle­rin der Geschichte gemacht hätte, oder das letzte fehlende EM-Gold im Teamsprint. »Das muss ich akzeptiere­n. Im Leben kann man nicht alles schaffen, aber man kann in vielen Dingen Weltmeiste­r werden.« Ob sie es im Parasport probieren wird, wisse sie noch nicht. Immerhin: Beim ersten Rollstuhlt­raining war sie schon wieder schnell unterwegs. So schnell, dass sie fiel. »Aber Stürze gehören zum Leben dazu«, sagt sie. Wieder steckt ihren Zuhörern der Kloß im Hals. Kristina Vogel lacht nur drüber.

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Foto: dpa/Annegret Hilse
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Foto: imago/Michael Hundt Start ins neue Leben: Kristina Vogel

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