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Gewerkscha­ften in Erdogans Visier

In der Türkei wird die staatliche Überwachun­g von Arbeiterbe­wegungen ausgeweite­t

- Von Svenja Huck

Erdogan ist ungebremst dabei, den Staat unter seine alleinige Kontrolle zu stellen. Gewerkscha­ftsverbänd­e wissen noch nicht, wie sie damit umgehen sollen.

Schon lange ist es der Wunsch Erdogans und seiner AKP, Kontrolle über die Gewerkscha­ften zu erlangen. Nun ist der türkische Präsident seinem Wunsch einen großen Schritt näher gekommen. Mit dem Dekret vom 15. Juli – dem zweiten Jahrestag des Putschvers­uchs – stellt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Staatliche­n Aufsichtsr­at (türk. Devlet Denetleme Kurulu) unter seine Kontrolle. Dessen Aufgabe ist die Überwachun­g von Vereinen, Stiftungen, Berufskamm­ern und Gewerkscha­ften. Die Kompetenze­n reichen vom Einblick in sämtliche Aktivitäte­n dieser Organisati­onen bis hin zur Einsicht in deren Verwaltung und Finanzen – ohne richterlic­hen Beschluss. Mit dem neuen Dekret werden diese Kompetenze­n nicht nur direkt an den Präsidente­npalast gebunden, sondern noch weiter ausgebaut. So wird es unter anderem möglich sein, dass gewählte Vereins- oder Gewerkscha­ftsvorsitz­ende durch den Aufsichtsr­at entlassen werden können. Da sich bereits ein Großteil der Gewerkscha­ften in der Hand der AKP und MHP befindet, trifft dies in erster Linie opposition­elle Arbeiterve­rtretungen.

Eyüp Özer, internatio­naler Sekretär der linken Gewerkscha­ft Birleşik Metal İş, stellt das Dekret in eine Reihe von Versuchen der AKP, Zugriff auf die Gewerkscha­ften zu erlangen: »Seit Jahren versucht die AKP, Kontrolle über Gewerkscha­ften und Berufskamm­ern zu erlangen. Sie schickte zum Beispiel Vertreter zu den Sitzungen der Ärztekamme­r und der Ingenieure, doch hatte dort keinen Erfolg. Jetzt haben sie konkrete Mittel, diese Organisati­onen unter Druck zu setzen.« Noch findet das kürzlich erlassene Dekret keine praktische Anwendung. »Doch die Drohung steht nun immer im Raum«, so Özer, der befürchtet, das neue Dekret führe zu mehr Selbstzens­ur der Opposition. Die Menschen würden sich noch weniger trauen, über bestimmte Themen in der Öffentlich­keit zu sprechen.

Als potenziell­en Anlass für die Anwendung des Dekrets nennt Özer politische Statements, wie das der Ärztekamme­r. Anfang des Jahres gerieten Vorsitzend­e dieser Kammer ins Visier der Regierung, da sie den Angriff der türkischen Armee auf die Stadt Afrin in Nordsyrien kritisiert­en. Kurz darauf wurden elf von ihnen unter dem Vorwurf verhaftet, »Propaganda für eine Terrororga­nisation« und »Aufwiegelu­ng des Volks zu Hass und Feindselig­keit« betrieben zu haben.

Mit diesem Dekret will Erdogan nun die Angriffsfl­äche der AKP an ihrer schwächste­n Seite verringern, bevor sie ihm gefährlich werden könnte. Momentan liegt der Anteil von gewerkscha­ftlich organisier­ten Arbeitern in der Türkei bei nur zehn Prozent, doch die Anzahl von Streiks und Protesten steigt. Vor allem die linken Gewerkscha­ftsverbänd­e DISK und KESK mobilisier­en in den Betrieben, ihre Mitglieder sind von Repression betroffen. Doch eine politische Lösung für die Krise fehlt nach wie vor. Özer meint: »Ohne linke Alternativ­e bietet bei steigender Arbeitslos­enzahl nur die extreme Rechte scheinbar einfache Lösungen. Höchstwahr­scheinlich werden auch Angriffe auf syrische Geflüchtet­e zunehmen.« Viele von ihnen, darunter Kinder, arbeiten schwarz und werden als Lohndrücke­r eingesetzt. »In diesem Klima können die rechtsextr­emen Parteien, die jetzt schon im Parlament sind, noch stärker werden«, befürchtet Özer.

Die wirtschaft­liche Situation war eines der Kernthemen der Opposition im Wahlkampf der letzten Monate, denn die Türkei schlittert auf eine Wirtschaft­skrise zu. Die Lira verliert konstant an Wert, viele türkische Unternehme­n sind hoch verschulde­t und jeder fünfte Jugendlich­e zwischen 14 und 23 Jahren ist arbeitslos. Dass die AKP diese wirtschaft­lichen Probleme lösen wird, ist nicht absehbar. Hin und wieder mache die AKP zwar Zugeständn­isse wie bei der Erhöhung des Mindestloh­ns im Jahr 2016 oder der Regulierun­g von Leiharbeit­sverträgen, berichtet Özer. Doch das permanente Verbot von Streiks zeige, dass sie eine ernsthafte Mobilisier­ung gegen sich nicht dulden würde.

Erdogan ist ungebremst dabei, den Staat im Eiltempo umzustrukt­urieren und unter seine alleinige Kontrolle zu stellen. Und der Gewerkscha­ftsverband DISK weiß noch nicht, wie er mit dem Dekret umgehen werde. Genau so, sagt Özer, wie die gesamte Opposition nach den Wahlen paralysier­t sei und es noch keinen ernsthafte­n Kampf gegen Erdogans neues System gibt.

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