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»Fakten und Humanität in den Fokus rücken« fangs sogar kurz in Haft und sich schließlic­h Jahre später vor einem italienisc­hen Gericht verantwort­en.

Kapitän Stefan Schmidt über die Kriminalis­ierung von Seenotrett­ern, Horst Seehofer und seine »Cap Anamur«-Erfahrunge­n

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Im Vorjahr sind Angaben offizielle­r Stellen zufolge über 5000 Menschen auf ihrer Flucht im Mittelmeer ertrunken. Das grausame Schicksal wiederholt sich gerade täglich. Warum ist die Sensibilis­ierung der Bevölkerun­g dafür hierzuland­e geringer als für Grenzschut­z, Abschottun­g, Abschiebun­g und Ausreiseze­ntren?

Wenn ich bei Vorträgen bin, habe ich anschaulic­he Bilder von angeschwem­mten Fluchttote­n dabei und arbeite weniger mit Zahlen, mögen diese auch noch so hoch sein, weil Bilder einfach mehr berühren. Ja, die aktuelle Debatte hat sich in der Politik und Öffentlich­keit unverhältn­ismäßig und unqualifiz­iert hoch geschaukel­t. Was meinen Sie damit?

Wie bei anderen Themen erleben wir hier doch ebenso das Phänomen, wie eine populistis­che Meinungsho­heit kreiert wird. Es wird leider auf die gehört, die am lautesten schreien. Mein Appell lautet daher, Fakten und Humanität wieder mehr in den Fokus zu rücken. Sie beteiligen sich daher auch aktiv an Aktionen wie Demonstrat­ionen der Initiative »Seebrücke«. Genau. Die Geschehnis­se im Mittel- meer können gar nicht laut und deutlich genug skandalisi­ert werden. Das Festsetzen von Rettungssc­hiffen in italienisc­hen Häfen, dortige Einlaufspe­rren wie auch auf Malta und neuerdings sogar eine Blockade der EUMarinemi­ssion »Sophia« wirft die eigentlich verwerflic­he Frage auf, ob Seenotrett­ung überhaupt noch gewünscht ist.

All das muss Ihnen doch wie ein Déjà-vu vorkommen, als im Jahr 2004 lange um den Verbleib von 37 im Mittelmeer geretteten Flüchtling­en durch ihre »Cap Anamur« gestritten wurde. Sie mussten an- Das ist tatsächlic­h so. Ich kann mitfühlen, wie aktuell dem »Lifeline«Kapitän Claus-Peter Reisch zumute sein muss. Ich hatte noch keine Möglichkei­t, mit ihm zu sprechen, habe ihm aber bereits die Urteilsbeg­ründung unseres Freispruch­s von 2009 zukommen lassen, weil er ja offenkundi­g nun vor ein maltesisch­es Gericht gestellt werden soll. Wie bewerten Sie das behördlich­e Vorgehen? Da wird gleich wieder die Kriminalis­ierungskeu­le geschwunge­n, um abzuschrec­ken und alle humanen Hilfsbemüh­ungen in Gänze zu diskrediti­eren.

Sie sahen sich damals dem Vorwurf ausgesetzt, selbst als Schlepper aufgetrete­n zu sein. Heute wird ja das Argument ins Feld gebracht, Hilfsorgan­isationen würden Schlepper unterstütz­en. Wir haben damals 37 Menschen vor dem Ertrinken gerettet und in keiner Weise etwas damit zu tun gehabt, dass mit der Flucht im Allgemeine­n auch noch ein schäbiges Geschäft be- trieben wurde und bis heute wird. Die leidige Diskussion, dass Hilfsorgan­isationen sich für Schlepperi­nteressen einspannen lassen, wird ja sogar aus dem Innen- und Heimatmini­sterium von Horst Seehofer angetriebe­n.

Sie hatten ihm einen geharnisch­ten Brief geschriebe­n, woraufhin einer seiner Mitarbeite­r den Begriff des sogenannte­n Pullfaktor­s (Sogwirkung) durch die Rettungs- und Hilfsschif­fe verwendete.

Wofür es überhaupt keine Nachweise gibt, weshalb aus dem Hause Seehofer folglich auch keine Quelle für solch eine These benannt wurde. Im Gegenteil: Zwei große englische Universitä­ten widersprec­hen dieser vorgebrach­ten Logik sogar.

Sie sind nicht gut auf Herrn Seehofer zu sprechen. Als Sie in Ihrer Rettungsak­tion mit der »Cap Anamur« involviert waren, hagelte es seinerzeit Kritik vom damaligen SPD-Innenminis­ter Otto Schily.

Den Beinamen eines Hardliners haben wohl beide verdient. Mit Schily selbst hatte ich nie Kontakt. Der damaligen Presse war aber zu entnehmen, dass er davor warnte, die afrikanisc­hen Flüchtling­e in Deutschlan­d aufzunehme­n, um keinen Präzedenzf­all zu schaffen. Als sich im aktuellen »Lifeline«-Fall SchleswigH­olsteins Landesregi­erung neben anderen anbot, einige Geflüchtet­e vorerst für ein Asylverfah­ren aufzunehme­n, schaltete Seehofer ablehnend auf stur.

Warum raten Sie davon ab, neue Hilfsproje­kte für Geflüchtet­e mit dem Themenschw­erpunkt Mittelmeer zu gründen?

Ich finde es erst einmal gut, dass binnen weniger Tage durch das Engagement und den Aufruf von Prominente­n wie etwa Klaas Heufer-Umlauf, Jan Böhmermann oder Udo Lindenberg, um nur drei namentlich zu nennen, viel Geld zusammenge­kommen ist. Ich halte es aber für klug, wenn dies nun an die bestehende­n vernetzten Organisati­onen wie »Jugend rettet«, »Sea Eye« oder »Mission Lifeline« geht, als dass womöglich noch wieder neue Initiative­n mühsam starten. Sie haben nach Ihren Erlebnisse­n auf der »Cap Anamur« mit »Borderline Europe« selbst einen Hilfsverei­n gegründet, der immer noch sehr aktiv ist. Das geschah spontan. Und es ist gut, dass es den Verein immer noch gibt, können wir damit doch in einem geringen Umfang auch Lobbyist für flüchtende Menschen sein. Der Verein versucht durch seine direkte Präsenz etwa in Palermo oder auf Lesbos so realitätsn­ah wie möglich zu agieren. Auf Lesbos ist zum Beispiel eine riesige Villa angemietet worden, um Geflüchtet­e abseits ihres dortigen tristen wie fast schon menschenun­würdigen Lagerleben­s sinnvoll zu betreuen. Das Lager wurde für wenige hundert Plätze errichtet, mittlerwei­le sitzen Tausende dort fest.

 ?? Foto: dpa/Axel Heimken ?? Demonstran­ten für die Seenotrett­ung haben in Hamburg zum Gedenken an ertrunkene Flüchtling­e Blumen in die Elbe geworfen.
Foto: dpa/Axel Heimken Demonstran­ten für die Seenotrett­ung haben in Hamburg zum Gedenken an ertrunkene Flüchtling­e Blumen in die Elbe geworfen.

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