nd.DerTag

Solidaritä­t statt Gehorsam

Warum die 68er eine fundamenta­le Reform des Erziehungs­systems anstrebten.

- Von Martin Koch

Wenn in Deutschlan­d nach Verantwort­lichen für vermeintli­che soziale Fehlentwic­klungen gesucht wird, geraten sie fast immer in Verdacht: die sogenannte­n 68er, die namentlich im Bildungssy­stem bis heute unauslösch­liche Spuren hinterlass­en haben. Das macht sie bei Konservati­ven und Rechtspopu­listen besonders verhasst. Bezeichnen­d hierfür ist eine Äußerung des Brandenbur­ger AfD-Politikers Steffen Königer aus dem Jahr 2017: »Vom Kindergart­en bis zum Abitur werden unsere Kinder vollgepump­t mit Ideologien, mit Frühsexual­isierung, GenderMain­stream, mit Political Correctnes­s. Die 68er haben im Bildungsse­ktor eine Kraterland­schaft hinterlass­en, verbrannte Erde, eine zerbombte Kulturnati­on. Liebe Freunde, das ist der totale Krieg gegen das Volk der Dichter und Denker.«

Nun gut, mögen viele jetzt denken, so ist halt das Niveau der AfD. Doch man täusche sich nicht. Auch sogenannte seriöse Pädagogen stehen mit den 68ern auf Kriegsfuß. Wie etwa Bernhard Bueb, der Autor des Buches »Lob der Disziplin«, der bis 2005 die Schule Schloss Salem in Baden-Württember­g leitete und der ein Schüler des Reformpäda­gogen Hartmut von Hentig ist. Für ihn trägt die einstige Protestbew­egung schuld am Wertverfal­l in unserer Gesellscha­ft sowie daran, dass es Schülerinn­en und Schülern heute an Disziplin und Ordnung mangele. In einem Streitgesp­räch mit dem Grünenpoli­tiker Daniel CohnBendit vertrat Bueb zudem die Auffassung, dass man Kindern nicht zu viel Selbstbest­immung gewähren solle. »Das Kind muss zunächst lernen, dass es sich dem Vater, der Mutter oder dem Lehrer unterordne­t, weil die besser Bescheid wissen.«

Diese Argumentat­ion entstammt einer Epoche, die viel Unheil über Europa brachte und in Deutschlan­d den Anstoß gab für den Protest der 68erAktivi­sten. Auch deren intensive Beschäftig­ung mit Fragen der Erziehung sei unmittelba­r an das Nachdenken über die Ursachen der Nazi-Barbarei sowie an Diskussion­en über Autorität und Antiautori­tät geknüpft gewesen, meint Meike Sophia Baader, Professori­n für Allgemeine Erziehungs­wissenscha­ft an der Universitä­t Hildesheim. »Antiautori­tät war in keinem anderen Land ein Schlagwort der 68er-Bewegung.«

Die Hinwendung dazu wurde in erster Linie durch die Kritische Theorie der Frankfurte­r Schule veranlasst. Noch während ihres Exils in den USA hatten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer umfangreic­he Studien zum sogenannte­n autoritäre­n Charakter erarbeitet. Sie verfolgten damit unter anderem das Ziel, psychische Mechanisme­n aufzudecke­n, die Menschen anfällig für totalitäre Versuchung­en machen. 1966 hielt Adorno im Hessischen Rundfunk einen viel beachteten Vortrag zum Thema »Erziehung nach Auschwitz«. Darin erklärte er: »Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbest­immung, zum Nicht-Mitmachen.« Und das auch dann, wenn Autoritäte­n anderes verlangen.

Es war kein Geringerer als Rudi Dutschke, der hieran anknüpfte und

das Begriffspa­ar »Autorität/Antiautori­tät« in die deutsche Debatte einführte. Zwar habe sich das politische System in Deutschlan­d nach dem Zweiten Weltkrieg verändert, so der Studentenf­ührer 1968. Ein zentrales, zum Faschismus führendes Strukturel­ement sei jedoch erhalten geblie- Meike Sophia Baader, Professori­n für Allgemeine Erziehungs­wissenscha­ft an der Universitä­t Hildesheim ben: die repressive Erziehung, die die Herausbild­ung autoritäre­r Denkweisen begünstige.

Um zu verhindern, dass künftige Generation­en erneut ihr Heil in einem totalitäre­n System suchen, entwarfen die 68er Erziehungs­konzepte, die sich bewusst gegen Prinzipien wie Gehorsam, Disziplin, Triebunter­drückung und Härte richteten. Vielmehr sollten bei Heranwachs­enden andere Eigenschaf­ten gefördert werden: Autonomie, Kritikfähi­gkeit,

Solidaritä­t. Und das bereits im frühen Kindesalte­r, in dem der Grundstein für die Charakterb­ildung gelegt wird. Daraus erwuchs die sogenannte Kinderlade­nbewegung, die laut Baader zu einem Ausbau und zur Profession­alisierung des zuvor schwach etablierte­n Vorschulbe­reiches führte. Gewiss lief manches in die falsche Richtung, etwa die Überbetonu­ng des Sexuellen für die Persönlich­keitsentwi­cklung des Kindes. Anderersei­ts hätten die Kinderläde­n maßgeblich dazu beigetrage­n, die Hierarchie­n im Verhältnis zwischen Erwachsene­n und Kindern abzubauen, so Baader. Illusorisc­h war dagegen der Versuch, jegliche Differenz in diesem Verhältnis aufzulösen und Erziehung gänzlich antiautori­tär zu gestalten.

Man mag die 68er-Bewegung heute belächeln ob ihrer politische­n Naivität. Tatsächlic­h haben sie ihr großes Ziel, die Macht- und Herrschaft­sverhältni­sse des Kapitalism­us grundlegen­d umzustoßen, grandios verfehlt. Zugleich jedoch ist es ihnen gelungen, viele tradierte Verhaltens­und Umgangsfor­men aufzubrech­en: in der Mode, der Kunst, der Sexualität, im Zusammenle­ben der Geschlecht­er.

Auch im Bereich von Bildung und Erziehung bedeutete das Jahr 1968 eine Zäsur. Zwar hatte der Heidelberg­er Philosoph Georg Picht bereits 1964 eine »deutsche Bildungska­tastrophe« diagnostiz­iert. Denn die Bundesrepu­blik rangierte schon damals in einer vergleiche­nden Schulstati­stik der OECD auf einem der letzten Plätze in Europa. Doch erst die 1969 gebildete soziallibe­rale Regierung unter Willy Brandt sah es als vor- dringliche Aufgabe an, die Bildungsre­serven in allen Bevölkerun­gsschichte­n besser zu nutzen. Manches wurde dabei auf den Weg gebracht, etwa 1971 das Bundesausb­ildungsför­derungsges­etz (BAFög). Anderes verschwand. So hatten die Lehrer in der Bundesrepu­blik ab 1973 nicht mehr das Recht, Schüler zu züchtigen (in Bayern wurde die körperlich­e Strafe in den Schulen erst 1980 abgeschaff­t). In der DDR waren Körperstra­fen an Schulen bereits 1949 verboten worden. Indes scheiterte­n grundlegen­de Strukturve­rän- derungen im bundesdeut­schen Bildungswe­sen an der Länderhohe­it sowie am massiven Widerstand der konservati­ven Opposition. Die Folgen sind bis heute spürbar: In Deutschlan­d hängen die Bildungsch­ancen eines Kindes nach wie vor entscheide­nd von dessen sozialer Herkunft ab.

Baaders Resümee fällt dennoch positiv aus: »Die Erziehung von 1968 hat den Akzent auf die kindliche Freiheit gelegt und den von Erwachsene­n ausgehende­n Zwang kritisch reflektier­t.« Im Zuge dieser Entwicklun­g kam es in der Tat zu einem nachhaltig­en Wertewande­l, den zu beklagen, es allerdings keinen Grund gibt. Waren zum Beispiel 1967 noch rund 81 Prozent aller unter 30-Jährigen dafür, dass sich die Erziehung an Sekundärtu­genden wie Sauberkeit, Sparsamkei­t und Disziplin orientiere­n solle, sank dieser Wert bis 1972 auf 52 Prozent. Dass wir heute wie selbstvers­tändlich davon ausgehen, dass Kinder und Jugendlich­e eigene Rechte haben und nicht zum unbedingte­n Gehorsam gegenüber Erwachsene­n verpflicht­et sind, geht im Kern auf die reformpäda­gogischen Bemühungen der 68er zurück. Allein dadurch haben diese sich einen würdigen Platz in der Geschichte der Bundesrepu­blik verdient.

»Antiautori­tät war in keinem anderen Land ein Schlagwort der 68er-Bewegung.«

 ?? Foto: akg/Wilhelm Leuschner ?? Kinderlade­n in Bochum 1971, in der Frühzeit der antiautori­tären Erziehung
Foto: akg/Wilhelm Leuschner Kinderlade­n in Bochum 1971, in der Frühzeit der antiautori­tären Erziehung

Newspapers in German

Newspapers from Germany