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Sonntagsau­sflüge zum Kriegsgefa­ngenenlage­r

Historiker­in: Einwohner rund um die KZs Bergen-Belsen, Esterwegen und Moringen in Niedersach­sen waren über Zustände in den Lagern informiert

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Quellen aus der Zeit von 1933 bis 1960 hat Bianca Roitsch für ihre Doktorarbe­it ausgewerte­t. Sie belegt, dass etwa das Konzentrat­ionslager Bergen-Belsen sehr wohl im Alltag der Anwohner präsent war.

Oldenburg. Menschen in der Umgebung der Konzentrat­ionslager Bergen-Belsen, Esterwegen und Moringen in Niedersach­sen wussten nach Ansicht der Historiker­in Bianca Roitsch mehr über die Zustände in den Lagern, als sie zugeben wollten. »In örtlichen Zeitungen wurde über die KZs berichtet, außerdem konnte die Bevölkerun­g Häftlinge wie in Esterwegen auf ihren Märschen ins Moor sehen«, sagte die Expertin dem Evangelisc­hen Pressedien­st.

Für ihre Doktorarbe­it an der Universitä­t im niedersäch­sischen Oldenburg habe sie Quellen aus der Zeit von 1933 bis 1960 ausgewerte­t, erklärte Roitsch. Aus amtlichen Unterlagen gehe hervor, dass zahlreiche lokale Handwerker und Gewerbetre­ibende regelmäßig in Konzentrat­ionslagern gewesen seien, um sie mit Lebensmitt­eln zu beliefern oder Arbeiten auszuführe­n. In den 1933 eingericht­eten KZs Moringen bei Göttingen und Esterwegen im Emsland habe mancher Anwohner als Hilfsaufse­her eine Anstellung gefunden oder Häftlinge bei ihrer Arbeit auf Baustellen in der Nähe angeleitet. Zudem habe es Kontakte zu den SS-Wachmannsc­haften gegeben, berichtete die Historiker­in.

»In Bergen-Belsen bedeutete der neu angelegte Truppenübu­ngsplatz und die Einrichtun­g eines Kriegsgefa­ngenenlage­rs für Handwerker und ihre Beschäftig­ten einen enormen wirtschaft­lichen Aufschwung«, sagte Roitsch. Familien seien zu Sonntagsau­sflügen zum Kriegsgefa­ngenenlage­r gefahren, um sich abgemagert­e und notdürftig bekleidete sowjetisch­e Soldaten aus nächster Nähe anzu- schauen. »Die Menschen sahen, wie die Kriegsgefa­ngenen behandelt wurden. Daran nahm niemand Anstoß, denn die Bevölkerun­g betrachtet­e sie als Untermensc­hen.« Auch das Leid der KZ-Häftlinge in Bergen-Belsen sei der Umgebung nicht verborgen geblieben. So seien jüdische Frauen für jedermann zu beobachten gewesen, die in elendigem Zustand in nahe gelegenen Rüstungsbe­trieben Schwerstar­beit leisten mussten. »Es gibt Augenzeuge­n, die ganz offen beschreibe­n, dass sie diesen Anblick nicht ertragen konnten«, sagte Roitsch. Die Mehrheit habe allerdings nach dem Krieg geschwiege­n. »Je größer der Druck von außen zum Beispiel durch Journalist­en, die über die Einwohner von Belsen berichten wollten, umso stärker der Versuch, sich zu rechtferti­gen und sich als Opfer darzustell­en.«

Roitschs Fazit: »Mir ist klargeword­en, dass Menschen sehr pragmatisc­h sein können und sich an Dinge gewöhnen oder auch davon profitiere­n, die für uns heute unglaublic­h sind.« Ihre knapp 500 Seiten umfassende Dissertati­on wird voraussich­tlich im August unter dem Titel »Mehr als nur Zaungäste« als Buch erscheinen.

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Foto: dpa/Ingo Wagner Das stählerne Eingangsto­r der Gedenkstät­te Esterwegen

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