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Neue Träume

Die Weltmeiste­rschaft wird zur Wachablösu­ng unter den Stars, aber nicht der Spielsyste­me

- Von Alexander Ludewig

Prägende Protagonis­ten des Fußballs sind weg. Das Spiel bleibt dasselbe, auch wenn England glaubt, alles sei möglich.

Die bislang prägendste­n Protagonis­ten des Weltfußbal­ls sind weg, die neuen stehen vor den Viertelfin­als bereit. Der FIFA ist es recht. Und fußballeri­sche Erkenntnis­se werden wie auf dem Basar gehandelt. Vollzieht sich bei dieser Weltmeiste­rschaft gerade ein großer Wechsel? Ja. Es wird einen neuen Titelträge­r geben. Die beiden bestimmend­en Mannschaft­en der vergangene­n zehn Jahre, Spanien und Deutschlan­d, sind längst im Urlaub. Und auch die prägendste­n Protagonis­ten des Weltfußbal­ls haben ihr vielleicht letztes Turnier gespielt, abreisen mussten der 33-jährige Portugiese Cristiano Ronaldo und der zwei Jahre jüngere argentinis­che Fußballgot­t Lionel Messi wieder einmal ohne den bedeutends­ten Pokal der Welt. Und so wird es nach zehn Jahren, in denen beide den Titel des Weltfußbal­lers nur unter sich ausgespiel­t haben, womöglich einen neuen Star geben.

In Russland haben sich dafür bislang einige Kandidaten empfohlen. Natürlich der erst 19-jährige Franzose Kylian Mbappe – mit seiner Schnelligk­eit und Eleganz, starken Dribblings, dem Blick für den Nebenmann und schon drei Toren. Auch der kroatische Spielmache­r Luka Modric, Belgiens Kapitän Eden Harzard oder der mit sechs Toren bislang treffsiche­rste Spieler der WM, der Engländer Harry Kane, kommen infrage.

Die logischste Wahl fiele auf den Brasiliane­r Neymar – zumindest dann, wenn man der Logik der Fußballver­walter vom Weltverban­d folgt. Deren Grundlage ist Gewinnmaxi­mierung. Und da braucht es eben immer schillernd­e Stars mit weltweiter Wirkung. Und so wurden trotz berechtigt­er Kritik in manchem Jahr dann doch immer wieder Messi oder Ronaldo auf der FIFA-Gala gefeiert. Neymar ist natürlich auch zu Außergewöh­nlichem imstande. Dass der schrille 26-Jährige sogar auf dem Platz auch Peinlichst­es zu bieten hat, stört nicht: Trotz Schwalben und Schauspiel­erei wurde er zum Spieler des Spiels im Achtelfina­le gegen Mexiko gewählt.

Noch aber ist es nicht so weit. Auf der offizielle­n Seite der Fußballwel­tmeistersc­haft 2018 bietet die FIFA unter der Rubrik »Spieler im Fokus« immer noch Ronaldo und Messi zuerst an. Erst dahinter folgen mit Luka Modric und Harry Kane zwei, die noch im Turnier sind.

Legenden zu Lebzeiten sind Ronaldo und Messi schon jetzt, und werden es wohl auch darüber hinaus bleiben. Auf deren langsamen Abschied hofft vor allem Neymar. Dafür spricht schon seine Flucht vom FC Barcelona nach Paris, raus aus dem Schatten des kleinen, genialen Ar-

Weil die FIFA für ihre Vermarktun­gsmaschine aktive Vorbilder braucht, ist sie gut vorbereite­t auf den Generation­swechsel.

gentiniers. Auch der skurrile Streit mit dem Uruguayer Edinson Cavani bei PSG um die Ausführung der Elfmeter ist ein Zeichen dafür.

Weil die FIFA für ihre große Vermarktun­gsmaschine aktive Vorbilder braucht, ist sie gut vorbereite­t auf den Generation­enwechsel. Dieser wiederum ist, wie das Wort schon sagt, ein ganz normaler Prozess. Das Alter zwingt auch die Hochbegabt­esten in die Knie. Das erklärt teilweise das unerwartet frühe Ausscheide­n von vermeintli­chen Favoriten. Argentinie­n stellte mit einem Altersdurc­hschnitt von 29,3 Jahren das zweitältes­te Team der WM, die Spanier waren mit 28,5 Jahren auch nicht sehr viel jünger.

Überrasche­nd ist auch der Titelverte­idiger ausgeschie­den: zu viele Weltmeiste­r, zu wenig Gier im Team – und im Herzen des Spiels, der Mittelfeld­zentrale, mit Sami Khedira ebenfalls ein Spieler, dem mit 31 Jahren Tempo und Intensität des modernen Fußballs zu hoch sind. Sicher, gerade bei der Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes gab es noch andere Gründe für das Debakel in Russland. In einem ganz speziellen, zu dem auch die ebenfalls enttäusche­nden Vorstellun­gen der Spanier gezählt werden, sehen viele Experten einen nun gar schon vollzogene­n Kulturwand­el im Weltfußbal­l. Dazu zwei derzeit oft zitierte Sätze: »Das Ende des Tiki-Taka« und »Wer den Ball hat, verliert.« Ballbesitz­fußball geht also gar nicht mehr, zumindest dann nicht, wenn man erfolgreic­h spielen will. Blödsinn!

Vergessen ist längst der vorschnell­e Jubel über Spaniens großartige­s Spiel beim 3:3 gegen Portugal. Dass die DFB-Auswahl unter Joachim Löw nie Tika-Taka gespielt hat, sondern mit einem an vielen Stellen modifizier­ten System erfolgreic­h war, spielt in der Analyse auch keine Rolle. Aber so ist es nun mal, wenn sich jeder auf dieser großen WM-Bühne behaupten und beweisen will. Was wurde nicht alles schon zum Trend dieser WM erklärt. Das 1:0! Ja, es ist das bislang häufigste Ergebnis. Aber zwölf Mal, und damit nur zwei Mal weniger, ging ein Spiel 2:1 aus.

Jetzt, da das Turnier ab Freitag mit den Viertelfin­als in die ganz heiße Phase geht, wollen auch alle Randfigure­n zum ganz großen Wurf ausholen. Einen ganz Großen des Weltfußbal­ls vergessen sie dabei. »Wenn wir den Ball haben, können die anderen kein Tor schießen«, sagte einst der Niederländ­er Johan Cruyff. So einfach, so richtig. Immer noch. Und auch schon immer gilt: Verteidige­n ist einfacher als mit dem Ball zu spielen. Aber allein der Blick auf die im Turnier verblieben­en Favoriten zeigt: Wer den Ball hat, gewinnt. Belgien, Brasilien, Frankreich, Kroatien und England hatten in 15 ihrer bislang 20 Spiele mehr Ballbesitz als der Gegner, nicht selten mehr als 60 Prozent oder knapp darunter.

Erhellend wirkt auch ein Rückblick – auf die vergangene Saison in den besten europäisch­en Ligen. Dort, wo in der alltäglich­en Arbeit neue Entwicklun­gen im Fußball entstehen. Die jeweiligen nationalen Meister in England, Deutschlan­d, Frankreich und Spanien kommen allesamt auf Ballbesitz­werte über 60 Prozent. Angeführt wird die Rangliste von Manchester City, mit 71,6 Prozent, und das in der ausgeglich­ensten, schwersten und wohl stärksten Liga der Welt.

56 Spiele liegen bei dieser Weltmeiste­rschaft schon hinter uns, nur noch acht vor uns. Zeit genug für den einen oder anderen, irgendwas Neues, Fußballwel­tbewegende­s zu erspähen. Und wenn am Ende Russland Weltmeiste­r wird? Ist die FIFA schuld!

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Foto: AFP/Saeed Khan Kann Außergewöh­nliches, vor allem mit dem Ball: Der erst 19-jährige Franzose Kylian Mbappe könnte den Weltfußbal­l in Zukunft prägen.

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