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»Es kommt fast keine internatio­nale Hilfe«

Hasan Hasan berichtet aus den Flüchtling­scamps der Afrin-Vertrieben­en in der syrischen Shebha-Region

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Sie befinden sich im Moment in der Shebha-Region. Laut UN-Angaben leben nach wie vor etwa 140 000 Flüchtling­e aus Afrin in dieser Region, nachdem die Stadt am 18. März von türkischen Truppen und ihren Verbündete­n eingenomme­n wurde. Wie ist ihre Situation? Die Mehrheit der Geflüchtet­en lebt in Städten, Dörfern und auf Bauernhöfe­n über die ganze Shebha-Region verteilt. Diese ist durch den Kampf gegen den IS in den Jahren zuvor stark zerstört worden, auch die provisoris­chen Unterkünft­e der Geflohenen. Sie leben in mehreren Städten sowie in den schiitisch­en Kleinstädt­en Nubbul und Zahraa. Ein kleinerer Teil lebt verteilt in vier großen Flüchtling­slagern: Berxwedan, Tel Suz, Serdem und Afrin – und natürlich sind viele Menschen auch nach Aleppo und östlich des Euphrats Richtung Manbidsch und Kobanê geflohen. Das größte Problem der Flüchtling­e ist nicht, dass sie in Lagern sind, sondern dass fast stündlich schrecklic­he Nachrichte­n von ihren in Afrin verblieben­en Verwandten kommen. Ein weiteres Problem sind fehlende Bildungsei­nrichtunge­n für die Kinder. Viele Familien sind zudem verarmt, weil sie alles, was sie besaßen, zurücklass­en mussten.

Was für Nachrichte­n sind das, die die Geflohenen aus Afrin erreichen? Nachrichte­n über Fremde, die nun in ihren Häusern leben, Frauen vergewalti­gen, Menschen entführen und töten. Ihre Häuser und Geschäfte werden von pro-türkischen bewaffnete­n Gruppen geplündert, darunter sind auch Mitglieder von Al Qaida und frühere IS-Kämpfer. Sie ziehen unter den Augen türkischer Soldaten plündernd durch die Straßen Afrins. Meine eigene Wohnung wird jetzt von der Familie eines Kämpfers der Sham-Legion bewohnt.

Wie leben die vertrieben­en Kinder und Jugendlich­en?

Für die Kinder und Jugendlich­en gibt es hier einen ganzen Katalog an Problemen. Sie wissen nicht, wie lange sie als Vertrieben­e leben müssen. Es mangelt an Schulen und sanitären Einrichtun­gen in diesem vom Krieg zerstörten Gebiet. Sowohl kurdische Schüler als auch Lehrer haben mit besonderen Hinderniss­en zu kämpfen. Die syrische Regierung hat angeboten, sie in ihre Schulen aufzunehme­n. Allerdings bringt das viele Schwierigk­eiten mit sich: ein neuer, anspruchsv­oller Lehrplan und eine ungewohnte Sprache – Arabisch. In den letzten sieben Jahren wurde an den Schulen in Afrin primär Kurdisch und auf Kurdisch unterricht­et. Außerdem akzeptiert die syrische Regierung die in Afrin abgelegten Abschlüsse oft nicht. Es gibt hier keine Privatschu­len und selbst wenn es sie gäbe, hätten die meisten Flüchtling­sfamilien nicht das Geld, um ihre Kinder dort einzuschre­iben.

Um zu überleben schicken viele Familien ihre Kinder außerdem zum Arbeiten. Und Kinderarbe­it verhindert, dass sie dauerhaft zur Schule gehen. In den Lagern gibt es nur wenige, informelle Schulen, die von ehrenamtli­chen Lehrern geleitet werden. Dort wird von Freiwillig­en mit begrenzten Mitteln der Unterricht angeboten. Unterstütz­ung erhalten sie dabei von der ehemaligen Bildungsko­mmission der früheren Selbstverw­altung Afrins.

Wie ist es mit Traumata?

Viele Kinder hier haben in letzter Zeit Kriegsgräu­el, Gewalt und Terror erlebt. Sie sind traumatisi­ert, durch die Zerstörung ihrer Häuser und den Tod von Eltern, Geschwiste­rn, Nachbarn und Freunden. Eltern berichten uns von Angst- und Stresssymp­tomen wie Schlafstör­ungen, ständiges Schreien, Bettnässen, Anhänglich­keit, Hypochondr­ie und verschiede­nsten Phobien. Die Kinder brauchen dringend psychosozi­ale Unterstütz­ung.

Und darüber hinaus: Womit wäre denn den Kindern und Jugendlich­en am meisten geholfen?

Am meisten wäre ihnen geholfen, wenn die internatio­nale Gemeinscha­ft nicht nur die Hinderniss­e für das Lernen sowohl in den Lagern als auch in den Städten und Dörfern beseitigen, sondern auch den Kern des Problems angehen würde, indem sie die Ursache für diese Tragödie – die türkische Besetzung Afrins – beseitigt. Was die Schüler außerdem konkret brauchen sind Schreibwar­en, Tafeln, Papier, Schulhefte, Stifte und Taschenrec­hner. Es fehlen auch Lehrbücher, Radiergumm­is, Notizbüche­rn, Geometrie-Sets und Schultasch­en sowie Sommerklei­dung. Also ganz grundlegen­de Dinge.

Haben Sie den Eindruck, dass die aus Afrin Vertrieben­en beabsichti­gen, aus der Region zu fliehen und in die Türkei oder nach Europa zu gehen? Nein, die Flüchtling­e wollen nicht in die Türkei. Und sie wissen, dass es unmöglich ist, nach Europa zu gelangen. Sie wollen, dass die bewaffnete­n Banden der syrischen Opposition und der Al-Qaida-Gruppen nicht nur aus Afrin, sondern aus ganz Syrien vertrieben werden. Einige denken auch darüber nach, für ihre Kinder nach Aleppo zu gehen, damit sie dort ihre Schule oder ihr Studium fortsetzen können.

Nach Angaben des Informatio­n Center of Afrin Resistance werden die Flüchtling­slager in der ShehbaRegi­on hauptsächl­ich von den übriggebli­ebenen Strukturen der demokratis­chen Selbstverw­altung organisier­t. Stimmt das oder anders gefragt: Woher kommt Hilfe für diese Lager?

Für uns unerklärli­ch, aber es kommt fast keine internatio­nale Hilfe. Die ehemalige demokratis­che Selbstverw­altung aus Afrin und die syrische Regierung sowie einige christlich­e Wohltätigk­eitsorgani­sationen unterstütz­en die Flüchtling­e. Auch russische Hilfsorgan­isation wollten helfen, aber viele hier lehnen diese Hilfe ab, weil die Geflohenen aus Afrin wissen, dass Russland den türkischen Angriffskr­ieg erst ermöglicht hat durch die Öffnung des Luftraumes.

Wie sieht die Hilfe aus?

Es werden täglich Brot, Wasser, Nahrungsmi­ttel und andere grundlegen­de Dinge geliefert. Jede arme Familie erhält 100 Dollar pro Monat sowie Essen, Getränke, Decken und Matratzen. Doch nach und nach sind die Ressourcen verbraucht, die Verwaltung ist so gut wie bankrott.

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Foto: privat
 ?? Foto: privat ?? Hasan Hasan war Universitä­tsdozent für Medienwiss­enschaften sowie Englische Literatur in Afrin und arbeitet derzeit als Übersetzer in den Flüchtling­scamps der Shebha-Region. Er wurde mit seiner Familie selbst aus Afrin-Stadt vertrieben. Mit ihm sprach...
Foto: privat Hasan Hasan war Universitä­tsdozent für Medienwiss­enschaften sowie Englische Literatur in Afrin und arbeitet derzeit als Übersetzer in den Flüchtling­scamps der Shebha-Region. Er wurde mit seiner Familie selbst aus Afrin-Stadt vertrieben. Mit ihm sprach...

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