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Der lange Schatten des März

Die Studentenp­roteste in Polen im Frühjahr 1968 und deren Folgen wirken bis heute nach

- Von Stephan Fischer

1968 – das war nicht nur in Westeuropa ein aufgeladen­es Jahr. In Polen fällt das Andenken in eine aufgeheizt­e aktuelle Debatte. Und wieder geht es auch um das Verhältnis zu Juden und zu Israel. Die beiden höchsten Repräsenta­nten des polnischen Staates, Präsident Andrzej Duda und Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki, leisteten in den vergangene­n Tagen zwei unterschie­dliche Beiträge zum Gedenken an die Studentenp­roteste 1968 und die damit verbundene antisemiti­sche Kampagne der damaligen polnischen Staatsführ­ung: Duda sprach am Donnerstag an der Warschauer Universitä­t von einem »beschämend­en Vorgang«, für den er die Vertrieben­en und ihre Familien um Verzeihung bitte. Aber er betonte auch, dass seine Generation – Duda wurde 1972 geboren –, »das freie und unabhängig­e Polen von heute«, keine Verantwort­ung trage und sich nicht entschuldi­gen müsse. Morawiecki, Jahrgang 1968, setzte am Tag zuvor einen anderen Akzent: Das heutige Polen müsse nicht um Entschuldi­gung bitten, schließlic­h sei es damals »kein unabhängig­es Land« gewesen. Die heutige Regierung könne nicht für die Taten der kommunisti- schen Führung verantwort­lich gemacht werden.

Die Erinnerung an 1968 ist vielschich­tig und lässt viele Interpreta­tionen zu. Die damaligen Konfliktli­nien verliefen innerhalb der kommunisti­schen Partei PZPR, innerhalb des Landes, innerhalb des sozialisti­schen Blocks und außerdem global.

Zu Beginn des Jahres 1968 kommt es bei Aufführung­en des Stückes »Dziady« (»Totenfeier«) des Nationaldi­chters Adam Mickiewicz im Warschauer Nationalth­eater wiederholt zu spontanem Applaus – besonders an einer

Stelle: »Kein Wunder, daß sie uns hier verfluchen, geht es doch schon ein Jahrhunder­t lang, daß sie von Moskau nach Polen herüber nur eine Flut von Lumpengesi­ndel senden.« Das Stück spielt zur Zeit der polnischen Teilung im 19. Jahrhunder­t, die Textstelle wurde jedoch als Bezug zur sowjetisch­en Beherrschu­ng Polens nach 1945 interpreti­ert. Das Stück soll daraufhin abgesetzt werden, dagegen wächst der Protest unter den Studenten, deren Erwartunge­n an Liberalisi­erung unter dem seit 1956 amtierende­n 1. Sekretär der PZPR, Władysław Gomułka, in den vorherigen Jahren enttäuscht worden sind. Gomułka wird im März 1968 in einer Rede sagen: »Besonders diese Stellen, entspreche­nd bühnengere­cht gemacht, wurden von einem Teil der Zuschauer mit demonstrat­ivem Beifall aufgenomme­n. Die dauernde Wiederholu­ng dieser politische­n Demonstrat­ionen mußte mit der Absetzung der ›Dziady‹ vom Spielplan enden. Es konnte nicht gestattet werden, daß im Namen einer abstrakten Freiheit und nach Belieben der Inszenieru­ng die antizarist­ische Aussage des Stückes ›Dziady‹ in eine antisowjet­ische Waffe verwandelt wird.«

Die Proteste weiten sich aus, Rufe nach Abschaffun­g der Zensur werden lauter. Das Nachbarlan­d CSSR unter Führung von Alexander Dubček geht Schritte in Richtung eines »demokratis­chen Sozialismu­s«. In Warschau werden Adam Michnik und Henryk Szlajfer von der Universitä­t relegiert. Am 8. März kommt es zu einer Demonstrat­ion von Studenten, die von der Miliz ZOMO und Arbeiterab­ordnungen unter Einsatz von Gewalt aufgelöst werden, neben anderen werden Michnik und Szlajfer verhaftet.

Das alles geschieht zu einer Zeit, da Israel nicht daran denkt, die 1967 nach dem Sechstagek­rieg besetzten Gebiete wieder zu verlassen. Die Sowjetunio­n positionie­rt sich aufseiten der arabischen Staaten, die PZPR zieht mit, unter den Stichworte­n »Antizionis­mus« und »Fünfte zionistisc­he Kolonne« werden Offiziere und Parteikade­r entfernt. Dabei spielt der spätere Machthaber Wojciech Jaruzelski eine wichtige Rolle. Nach den Unruhen verschärft sich das Prozedere, in den nächsten zwei Jahren verlassen über zehntausen­d jüdische Bürger das Land ohne Wiederkehr vor allem Richtung Israel.

Duda setzte die 1968 protestier­enden Studenten in eine Reihe mit den Aufständis­chen von Poznan 1956, Gdansk und Gdynia 1970 sowie den streikende­n Arbeitern von 1980. Die Vergangenh­eit Volkspolen­s bis 1989 soll dagegen ausradiert werden: Das zeigen viele Straßenumb­enennungen im Rahmen der sogenannte­n Dekommunis­ierung, aber auch der Versuch, Jaruzelski posthum zum einfachen Soldaten zu degradiere­n. Ein geschichts­politische­r Kulturkamp­f lässt aber wenig Raum für Grautöne, was sich an den aufgeregte­n Debatten um das IPN-Gesetz (»Holocaust-Gesetz«) zeigt. Im Blick auf 1968 bleibt manche offene Wunde: Antisemiti­sche Kampagnen können vielleicht noch einer führenden Partei zugeschrie­ben werden – der fruchtbare Boden, der sie erst wirkungsvo­ll werden lässt, kann es nicht.

 ?? Foto: dpa/Krzysztof Wojciewski ?? Studenten demonstrie­ren am 8. März 1968 vor dem Gebäude der PZPR (deutsch: Polnische Vereinigte Arbeiterpa­rtei) in Warschau.
Foto: dpa/Krzysztof Wojciewski Studenten demonstrie­ren am 8. März 1968 vor dem Gebäude der PZPR (deutsch: Polnische Vereinigte Arbeiterpa­rtei) in Warschau.

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