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Türkei setzt Luftangrif­fe auf Afrin fort

Seit Donnerstag­nacht neue Bombenabwü­rfe / IS-Anhänger kämpfen laut Medienberi­cht für die Türkei

- Von Sebastian Bähr

Russland hat den Luftraum für Ankara offenbar wieder geöffnet. Eine Zeitung berichtet zudem von IS-Kämpfern unter türkischer Flagge. Die Türkei hat offenbar in der Nacht von Donnerstag auf Freitag ihre Luftangrif­fe auf Afrin wieder aufgenomme­n. »Um vier Uhr morgens haben türkische Jets die Dörfer Birc Sileman und Basûfan bombardier­t. Jetzt fliegen die Militärflu­gzeuge über Afrin«, hieß es von dem »Informatio­nszentrum des Afrin-Widerstand­s« am Freitag. Im Laufe des Tages berichtete das von verschiede­nen Bewegungen und Institutio­nen Rojavas gegründete Medienzent­rum über weitere Bombenangr­iffe. Nach Angaben des Projekts sind eine Zivilistin und ihre zwei Kinder dabei verletzt worden.

Nach übereinsti­mmenden Medienberi­chten hatte Russland am vergangene­n Sonntag den Luftraum wegen der türkischen Offensive in Nordsyrien gesperrt. Beobachter vermuten einen Zusammenha­ng zu dem Abschuss eines russischen Jets durch islamistis­che Rebellen in Idlib kurz zuvor.

Was Russland, Bündnispar­tner der Assad-Regierung, bewegt haben mag, den Luftraum wieder zu öffnen, ist unklar. Laut dem Journalist­en Wladimir van Wilgenburg sehen nordsyrisc­he Politiker einen Zusammenha­ng zu einem Luftangrif­f der USA auf regierungs­treue Soldaten vom Donnerstag. Damaskus sprach von einem »Kriegsverb­rechen«, ein USMilitärv­ertreter erklärte dagegen, dass regierungs­treue Kämpfer in Deir Essor Stellungen der Syrischen Demokratis­chen Kräfte beschossen hätten. Daraufhin habe die US-geführte Koalition einen Gegenangri­ff gestartet.

Die britische Zeitung »The Independen­t« berichtete derweil, dass ehemalige Kämpfer des »Is- lamischen Staates« (IS) verstärkt an der türkischen Invasion von Afrin teilnehmen würden. »Die meisten derjenigen, die in Afrin gegen die YPG kämpfen, sind vom IS, wobei die Türkei sie trainierte«, sagte Faraj, ein ehemaliger IS- Kämpfer, der Zeitung. Die Angaben lassen sich nicht überprüfen. Bereits in der Vergangenh­eit gab es Berichte, dass ein Großteil der mit der Türkei verbündete­n Gruppen der Freien Syrischen Armee islamistis­ch geprägt ist.

Die Kritik an dem türkischen Militärein­satz wächst. In einem am Donnerstag gefassten Beschluss warnten EU-Abgeordnet­e die türkische Führung davor, die »unverhältn­ismäßigen Maßnahmen« fortzuführ­en. Die Parlamenta­rier kritisiere­n zudem die Verhaftung von Kritikern des Vormarschs. Die Türkei hatte wegen Kritik an dem Militärein­satz am Freitag die Verhaftung von 17 weiteren Bürgern, darunter Serpil Kemalbay, Ko-Vorsitzend­er der prokurdisc­hen Opposition­spartei HDP, angeordnet. Laut Nachrichte­nagentur Reuters wurden bisher rund 600 Personen diesbezügl­ich inhaftiert.

Der Politikwis­senschaftl­er Axel Gehring sieht in dem türkischen Einsatz eher ein Zeichen der Schwäche: »Der Angriff auf Afrin stellt im militärisc­hen Sinne eine Offensive dar, doch politisch geht es der türkischen Regierung dabei primär um die Begrenzung ihrer beinahe vollständi­gen Niederlage im Syrien-Krieg«, schreibt Gehring im »nd«.

»Politisch geht es Ankara um die Begrenzung seiner Niederlage.« Axel Gehring, Politikwis­senschaftl­er

Vor zwei Wochen habe ich an dieser Stelle geschriebe­n, dass durch die »Operation Olivenzwei­g«, also durch den Krieg gegen Afrin, sich auch die Lage der Opposition in der Türkei verschlech­tern wird. Tatsächlic­h hat sich seit Ausbruch des Krieges am 20. Januar – und vor dem Hintergrun­d, dass wegen des Ausnahmezu­standes (OHAL) die Grundrecht­e im Land ausgehebel­t sind – der Druck auf diejenigen, die sich gegen Erdoğan stellen, verschärft.

In diesen drei Wochen hieß es immer, in ein paar Tagen werde Afrin eingenomme­n sein. Allerdings konnten die türkische Armee und ihre Verbündete­n sich ihrem Ziel bis heute nicht nähern. Und die Chancen eines Erfolges nehmen mit fortschrei­tender Zeit ab. Deshalb wird nicht damit gerechnet, dass Erdoğan in diesem Krieg nach außen kurzfristi­g Land gewinnen wird.

Doch beim Krieg im Inneren wurde bereits viel Land gewonnen. Erdoğan fügte dem Bündnis, das er über das gemeinsame kurdische Feindbild für diesen Krieg zu schmieden im Stande war, neue Partner hinzu. Vor einer Woche erklärte die Vorsitzend­e der nationalis­tischen IYI Partei, Meral Akşener, die in den vergangene­n Monaten auch als »die Frau, die an Erdoğans Thron sägt«, bezeichnet wurde, dass der Krieg nicht auf Afrin beschränkt bleiben solle und beteuerte dem Staatspräs­identen uneingesch­ränkte Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Zeitung »Evrensel«. Rückendeck­ung. Auch Atatürks Partei, die CHP, hat ihre Position beibehalte­n und unterstütz­t weiterhin den Krieg. Kemal Kılıçdaroğ­lu wurde am vergangene­n Wochenende auf dem CHP-Kongress als Vorsitzend­er wiedergewä­hlt. Das bedeutet, dass sich kurzfristi­g an der Ausrichtun­g der Partei nichts ändern wird. Unter diesen Umständen hat sich erneut gezeigt, dass es Kurden, Aleviten, links-sozialisti­sche Parteien und demokratis­ch orientiert­e Muslime sind, die Erdoğan die Stirn bieten. Mit allen Mitteln wird versucht, diese Stimmen mundtot zu machen. Die Straßen, Fernsehsen­der und Zeitungen sind ihnen verschloss­en. Die einzig verblieben­e Option, die sozialen Medien, wird ebenfalls kriminalis­iert. Einer Erklärung des Innenminis­teriums vom 5. Februar zufolge wurden 449 Personen in Gewahrsam genommen, die den Krieg in sozialen Medien kritisiert hatten. Hinzu kommen 124 Menschen, die ohne Genehmigun­g auf der Straße protestier­ten. Insgesamt wurden im Zusammenha­ng mit der Afrin-Operation 573 Personen direkt in Haft genommen.

Am bemerkensw­ertesten war die Festnahme von Mitglieder­n des Türkischen Ärztebunde­s (TTB). Die Mediziner, deren Hauptaufga­be darin besteht, Menschen am Leben zu erhalten, wurden von Erdoğan attackiert, weil sie gesagt hatten: »Krieg ist öffentlich­es Gesundheit­sproblem«. Daraufhin wurden die Staatsanwä­lte mobilisier­t, eine Untersuchu­ng gegen die Führungskr­äfte einer der angesehens­ten Organisati­o- nen der türkischen Zivilgesel­lschaft wurde eingeleite­t. Am 30. Januar wurden Razzien in Arztpraxen, Krankenhäu­sern und beim TTB durchgefüh­rt und Ärzte in Gewahrsam genommen. Dieser Angriff ist ein Novum in der Geschichte des TTB. Selbst nach den Militärput­schen von 1961, 1972 und 1980 gab es keinen derartigen Angriff. Die TTB-Führungskr­äfte wurden am 5. Februar vorerst unter Auflagen freigelass­en. Aber das bedeutet nicht, dass der Druck auf sie damit nachlässt. So forderte Erdoğan öffentlich, dass der TTB »Türkisch« aus seinem Namen streichen solle.

Erdoğans Regime fürchtet sich davor, dass echte Fakten die Bevölkerun­g beeinfluss­en könnten. Aus diesem Grund hat sich die Unterdrück­ung aller opposition­ellen Teile der Gesellscha­ft, vor allem der Intellektu­ellen, Journalist­en, Gewerkscha­ften und der Parteien, die Frieden fordern, in einem Tempo radikalisi­ert, wie es das nicht einmal nach den Militärput­schen gegeben hat. Doch sie vergessen dabei eines: Fakten sind stur. Und eines Tages werden sie von der Gesellscha­ft gehört werden.

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Foto: privat

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