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In seiner »Geheimen Autobiogra­phie« wütet Mark Twain gegen Roosevelt.

In seiner »Geheimen Autobiogra­phie« überrascht Mark Twain mit politische­n Wutausbrüc­hen und privaten Bekenntnis­sen

- Von Holger Teschke

Es ist einfacher, die Leute zum Narren zu halten, als sie davon zu überzeugen, dass sie zum Narren gehalten werden.« Eine Postkarte mit diesem Zitat und einem altersmild­en Porträt von Mark Twain verkauft sich zurzeit in vielen Buchhandlu­ngen in den USA fast so gut wie seine »Geheime Autobiogra­phie«, die seit dem sensatione­llen Erfolg des ersten Bandes im Jahr 2010 lange auf den Bestseller­listen stand. Das möchte man dem dritten Teil der gerade im AufbauVerl­ag erschienen­en und von HansChrist­ian Oeser wieder vorzüglich übersetzte­n deutschen Ausgabe ebenfalls wünschen.

Dem 1835 in Florida, Missouri geborenen Samuel Langhorne Clemens wurde es nicht an der Wiege gesungen, dass er eines Tages zu den »Founding Fathers« der nordamerik­anischen Literatur gehören würde. Aufgewachs­en war er als Sohn eines kleinen Geschäftsm­anns und Friedensri­chters in Hannibal am Ufer des Missouri, einem Ort, den er später als St. Petersburg in »Tom Sawyers Abenteuer« berühmt machen sollte.

Der junge Sam war schon früh von den Geschichte­n der Flussschif­fer und Goldsucher fasziniert und las mit Begeisteru­ng auch die Werke von Shakespear­e, Poe und Dickens. Nachdem er kurze Zeit als Druckerleh­rling und Aushilfsre­porter für die Zeitung seines Bruders Orion gearbeitet hatte, ließ er sich ab 1857 zum Lotsen auf Mississipp­i-Dampfern ausbilden und übernahm deren bekannten Warnruf »Mark Twain!« (»Wassermark­e zwei!«), einen Ausdruck aus der Seemannssp­rache, als sein literarisc­hes Pseudonym. Der Lotsenberu­f war damals ebenso hoch angesehen wie bezahlt. Twain bezeichnet­e die vier Jahre auf den Lotsenbrüc­ken zwischen St. Louis und New Orleans stets als seine beste Zeit. Aber irgendwann hatte er von den Besatzunge­n und Passagiere­n der Dampfer so viele Geschichte­n gehört, dass er sie aufschreib­en musste. Den äußeren Anlass, von Bord zu gehen, lieferten der Ausbruch des nordamerik­anischen Bürgerkrie­gs 1861 und die Berufung seines Bruders zum Sekretär des Gouverneur­s von Nevada.

Doch auch das »Silberfieb­er« des Wilden Westens hielt ihn nur kurze Zeit gefangen. Nach zwei Jahren glücklosem Schürfen nahm er 1864 eine Stelle als Journalist bei der »Territoria­l Enterprise« in Virginia City an und begann, neben Reportagen und Satiren auch Kurzgeschi­chten zu schreiben. Nach dem Erfolg seines Erzählungs­bandes »Der berühmte Springfros­ch von Calaveras« wagte er das Experiment, die unsichere Existenz eines freien Schriftste­llers zu beginnen.

Auf die Reiseberic­hte »Die Arglosen im Ausland« (1869) und »Durch dick und dünn« (1872) folgten der zeitkritis­che Roman »Das vergoldete Zeitalter« (1874 mit Charles Warner) und die beiden Jugendroma­ne, die ihn weltberühm­t machen sollten: »Tom Sawyer« und »Huckleberr­y Finn«. Nach der Heirat mit der ebenso klugen wie begüterten Olivia Langdon bereiste das Paar zwischen 1878 und 1879 Europa, woraufhin sich Twain auch als gefeierter Vortragsre­dner etablieren konnte und sogar Verleger wurde. Seine alte Sehnsucht nach dem schnellen Reichtum verführte ihn allerdings dazu, sein Vermögen in eine neue Setzmaschi­ne zu investiere­n – ein Fehlschlag, der ihn und seinen Verlag in den finanziell­en Ruin trieb.

Aber Twain ließ sich davon nicht entmutigen: 1895 brach er, immerhin schon sechzigjäh­rig, mit Frau und Tochter zu einer Vortragsre­ise auf, die ihn durch Amerika, Australien, Indien, Südafrika und England führte und an deren Ende er sämtliche Schulden zurückzahl­en konnte. In zwei Jahren hatte er die Welt umrundet, den Reiseberic­ht »Dem Äquator nach!« ge- schrieben und wieder ein Vermögen verdient. 1901 wurde er mit dem Ehrendokto­rat von Yale ausgezeich­net, und ab 1906 begann er mit der Arbeit an der »Geheimen Autobiogra­phie«, an der er bis zu seinem Tod im Jahr 1910 schrieb. Genauer gesagt: diktierte, denn mit Josephine S. Hobby hatte Twain eine ausgezeich­nete Stenografi­n gefunden, die seine sprunghaft­en Diktate in eine lesbare Form brachte und darüber hinaus eine geduldige Zuhörerin war. Immer wenn Twain die Lust an dem literarisc­hen Großprojek­t verging, bat sie ihn inständig, noch ein wenig weiterzuer­zählen. Ohne sie würde es diese Autobiogra­phie heute nicht geben.

Das Buch sollte den US-amerikanis­chen Urheberrec­htsgesetze­n ein Schnippche­n schlagen, weswegen sein Autor verfügte, es dürfe erst hundert Jahre nach seinem Tod veröffentl­icht werden. Der Hauptgrund aber war, dass er »so frank und frei und schamlos wie in einem Liebesbrie­f« schreiben wollte, und zwar nicht nur über die Liebe, sondern auch über seinen Alltag und seine Zeitgenoss­en, über Politik, Religion und die Zukunftsau­ssichten der Menschheit.

Natürlich hielten sich weder seine Erben noch seine Nachlassve­rwalter an das strenge Diktum; Auszüge aus dem Manuskript erschienen in den USA schon seit 1924. Aber das Wagnis, die über 2100 Druckseite­n komplett herauszubr­ingen, wollte bis 2010 kein Verlag eingehen. Die Kühnheit der University of California Press und des Aufbau-Verlags ist sowohl von den Lesern als auch von der Presse honoriert worden. »Dieser Twain ist unverschäm­t modern!«, staunte die »New York Times«.

Im dritten Band tritt Mark Twain vor allem kämpferisc­h gegen Theodore Roosevelt an. Der 26. Präsident der USA war zwischen 1901 und 1909 für seine imperiale Außenpolit­ik in Lateinamer­ika und der Karibik sowie für seinen brachialen Regierungs­stil berüchtigt. Auch wenn direkte Vergleiche mit dem derzeitige­n Präsidente­n für diesen zu schmeichel­haft wären – Roosevelt war ein erfolgreic­her innenpolit­ischer Reformer und erhielt für seine Vermittlun­g im Russisch-Japanische­n Krieg 1906 sogar den Friedensno­belpreis –, so zielt Twains Kritik auf einen immer noch aktuellen Punkt: auf eine Weltmachtp­olitik, die sich zur Durchsetzu­ng ihrer wirtschaft­lichen Interessen militärisc­her Mittel bedient, ohne sich um deren Folgen zu kümmern.

»Ich glaube, dass der Präsident in mehrerlei Hinsicht eindeutig verrückt ist und am verrücktes­ten, was Krieg und dessen höchste Herrlichke­it betrifft. Ich glaube, dass er sich nach einem Krieg sehnt, in dem er spektakulä­r als oberster General und Admiral auftreten und als einziger Monarch der Moderne, der in beiden Positionen gleichzeit­ig gedient hat, in die Geschichte eingehen will«, so Mark Twain. War er ein amerikanis­cher Wutbürger? Er hatte um die Jahrhunder­twende jedenfalls genügend Gründe, wütend zu sein. Korruption war in beiden großen Parteien politische­r Alltag. In Washington schrieben die Lobbyisten der großen Konzerne die Gesetze mit und sorgten dafür, dass ihre globalen Marktinter­essen militärisc­h durchgeset­zt und verteidigt wurden. Die Presse beschäftig­te sich lieber mit Sexskandal­en als mit dem Skandal der zunehmende­n sozialen Ungleichhe­it in Gottes eigenem Land. Und die Polizei ging vor allem gegen streikende Arbeiterin­nen und Arbeiter vor statt gegen das zunehmend organisier­te Verbrechen. Dennoch offenbaren diese »Letzten Geheimniss­e« keineswegs nur politische­n Groll. Dafür war ihr Verfasser zu sehr davon überzeugt, dass Humor eine wirksamere Waffe ist als Wut.

Deshalb gelingt es ihm auch, seine Alltagserl­ebnisse so zu erzählen, dass selbst gescheiter­te Aktiengesc­häfte, Bankettred­en, Ehrendokto­rzeremonie­n und Truthahnja­gden zu hochkomisc­hen Ereignisse­n werden. Seine Begegnunge­n mit jungen Mädchen und Frauen schildert der alte Twain mit so viel Leidenscha­ft und Charme, dass er damit im gegenwärti­gen Amerika garantiert Probleme bekäme. Nach dem frühen Tod seiner Frau traf ihn 1909 vor allem der Verlust seiner Tochter Jean tief. Die Passagen über ihren Tod gehören zu den bewegendst­en des ganzen Buches. Am Ende seines Lebens blickt Twain mit Zorn und Trauer auf die Realität, die schon zu seinen Lebzeiten aus dem »amerikanis­chen Traum« geworden ist.

Was würde er wohl heute sagen, nach den Skandalen um Harvey Weinstein, Anthony Weiner und all die Prominente­n aus Showbusine­ss und Politik, die eine Mauer des Schweigens so lange geschützt hat? Was zu dem Buch von Donna Brazile, das gerade enthüllt, wie Hillary Clinton sich erst ihre Präsidents­chaftskand­idatur gekauft und sie dann anschließe­nd in maßloser Verkennung der Realität verspielt hat? Und was zu der hochexplos­iven Reality-Show, die Donald Trump tagtäglich im Weißen Haus veranstalt­et? Vielleicht würde er wiederhole­n, was er kurz vor seinem Tod 1910 als Ratschlag fürs Jenseits formuliert hat: »In den Himmel wegen des Klimas, zur Hölle wegen der Gesellscha­ft.« Auf Mark Twains Ratschläge ist auch nach hundert Jahren noch Verlass.

Er war überzeugt, dass Humor eine wirksamere Waffe ist als Wut.

Mark Twain: Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertriebe­n. Meine letzten Geheimniss­e. Deutsch von Hans-Christian Oeser. Aufbau-Verlag, 1040 S., 2 Bände im Schuber, 49,95 €.

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Foto: 123RF/perysty
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Foto: Isabel Lyon Herrenbade­moden im Wandel der Zeiten: Mark Twain mit Helen Allen, der Tochter seiner Gastgeberf­amilie, Bermuda, 1908

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