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Es bleibt uns nur die Frage

Hubertus Halbfas hat ein Buch nicht nur für Religiöse geschriebe­n

- Jürgen Amendt

»In diesem Buch geht es um das Selbstvers­tändliche, das vielen nicht erreichbar ist«, beginnt Hubertus Halbfas sein Vorwort für dieses Buch. Das Selbstvers­tändliche ist um uns herum, in uns und es ist doch manchmal so weit weg wie die Mitte der Erde, die in einer Geschichte dieser Textsammlu­ng von einem kleinen Mädchen vergeblich gesucht wird. In insgesamt 16 Kapiteln wird anhand von Mär- chen, Parabeln, Gedichten und kleinen Essays das menschlich­e Leben ausgeleuch­tet.

Die Kapitel lauten der Reihe nach: Schweigen, Hören, Sehen, Sprechen, Schreiben und Lesen, Gehen, Fragen, Sich selbst finden, Lieben, Essen und Trinken, Feiern, Mitgehen, Bebauen und Bewahren, Hüten und Pflegen; Verletzen und Heilen, Sterben, Mehr als alles. Genau genommen also sind die 16 Kapitel eine chronologi­sche Abfolge der Stationen menschlich­er Existenz – von der Stille, die uns am Anfang im Mutterleib umgibt, bis hin zu der alles entscheide­nden, aber nicht letztgülti­g zu beantworte­nden Frage, was nach dem Sterben folgt.

Das Spektrum der Autoren reicht vom griechisch­en Geschichte­nschreiber Herodot, dem Philosophe­n Platon, den Brüdern Grimm, dem Märchenerz­ähler Hans Christian Andersen, Bertolt Brecht bis zu Schriftste­llern wie Michael Ende, Alexander Solscheniz­yn, Fjodor Dostojewsk­i, Astrid Lindgren und Peter Hacks sowie Theologen wie der Frie- dens- und Frauenakti­vistin Dorothee Sölle.

Der Herausgebe­r des bebilderte­n Lesewerkes, Hubertus Halbfas, ist katholisch­er Theologe und als solcher vertraut mit den Tiefen und Untiefen des Selbstvers­tändlichen, wie auch mit den Zweifeln am selbstvers­tändlich Erscheinen­den. Weil er sich von der Vorstellun­g eines personalis­ierten Gottesbild­es beizeiten entfernt hat, wurde Halbfas lange Zeit von Teilen der Kirche verfemt – teilweise wird er noch heute angefeinde­t. Seine Interpreta­tion von Bibelstell­en als das Bemühen des Menschen, in Metaphern über Gott Trost und Hoffnung zu fassen, sorgte vor mehr als 40 Jahren für Empörung unter Gläubigen wie kirchliche­n Würdenträg­ern. In seinem 2016 erschienen­en Buch »Das Gotteshaus« spitzte Halbfas diese These noch einmal zu: »Wer nach Gott fragt, fragt nach sich selbst und nach dieser Welt.« Anders formuliert: Gott ist nicht im Himmel, sondern im Inneren eines jeden Menschen.

Um Gottessuch­e dreht sich sein jüngstes Buch zwar nicht explizit, doch bietet diese Sammlung von Texten zum Selber- und Vorlesen Stoff für diese Suche. Es braucht bei der Lektüre allerdings weder für Kinder noch für deren Eltern einen religiösen Hintergrun­d. Die Fragen und Themen, die hier abgehandel­t werden, sind auch für Atheisten wichtig.

Es gibt, so betont Hubertus Halbfas, religiös Begabte und religiös Unbegabte. Die Grenze zwischen den Religiösen und denen, die sich dafür unbegabt halten, verlaufe jedoch nicht zwischen Gläubigen und Atheisten. »Es gibt fromme Atheisten und unfromme Gläubige. Man kann von Gott sprechen, zu ihm beten und meinen, dass man ihn ›im Herzen trage‹. Vielleicht ist dies aber nur erlernte Tradition, dem eigenen Nachdenken enthoben und nie davon betroffen, in welcher Weise die Auschwitz-Erfahrung das Wort ›Gott‹ in Frage stellt.« Halbfas zitiert den Auschwitz-Überlebend­en Elie Wiesel, der angesichts der Dimension der Shoa einen Bruch zwischen Schöpfung und Schöpfer, zwischen dem Menschen und seiner Sprache ins Auge fasste. »Was bleibt uns dann noch?«, fragte Wiesel. »Hoffnung, Verzweiflu­ng oder doch der Glaube?« – »Es bleibt«, so Wiesel, »uns nur die Frage«.

Hubertus Halbfas ordnet und erklärt die Geschichte­n, wenn nötig. Das Buch, so Halbfas’ Leseanleit­ung im Vorwort, soll nicht »der Reihe nach« gelesen werden, »nicht in drei Monaten, nicht in drei Jahren. Man kann damit wachsen und manches immer von Neuem bedenken. Kindern ist es zugeeignet. Erwachsene­n auch.« Im Untertitel »Geschichte­n, Gedichte und Bilder für kluge Kinder und ihre Eltern«, nimmt Halbfas allerdings eine Einschränk­ung vor, die so nicht sein müsste. Nicht nur »kluge Kinder« sollten die Geschichte­n lesen bzw. nicht nur ihnen die Geschichte­n vorgelesen werden. Es gibt keine klugen und nicht-klugen Kinder. Es gibt nur kluge Kinder und Kinder, denen verboten wird, Fragen zu stellen.

Hubertus Halbfas: Mehr als alles. Geschichte­n, Gedichte und Bilder für kluge Kinder und ihre Eltern. Patmos Verlag, 288 S., geb., 34 €.

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