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Die Seele lässt sich nicht einfach neu formatiere­n

Elvira Dones erzählt vom albanische­n Gewohnheit­srecht der »Schwurjung­frauen« und von den Schwierigk­eiten, sich daraus zu befreien.

- Silvia Ottow

Auf dem Flug in die USA berichtet Hana Doda einem fremden Reisegefäh­rten von ihren Schreibver­suchen. »Dann sind Sie also Dichter, Herr Doda«, erwidert dieser. Moment, wieso spricht er von einem Herrn, haben wir nicht gerade gelesen, es handele sich um eine Frau?

Nein, es ist kein Fehler. Die ersten Zeilen in Elvira Dones’ Roman spiegeln die tiefe Zerrissenh­eit eines Menschen mit einem unglaublic­hen, geradezu surreal anmutenden Schicksal.

Es begann vor Jahrzehnte­n in den albanische­n Bergen, wo in archaische­n Lebensverh­ältnissen ein Gewohnheit­srecht überlebt hat, das es Frauen ermöglicht, in Mannesklei­der zu schlüpfen und ihrer Sexualität abzuschwör­en. Genau das ist Hana passiert. Sie trägt Herrenjack­ets, nennt sich Mark, raucht Kette, schießt auf der Jagd, trinkt, flucht und flüchtet sich vor Gefühlen in die grobe Sprache der Männer aus den Clans der heimatlich­en Berge, mit denen sie zusammen gelebt hat. Ebenfalls als Mann. Der jetzt wieder eine Frau werden will und eine Dichterin, ja. Doch zu diesem Zweck muss »Er« aus Albanien verschwind­en. Und »Sie« darf nie mehr zurückkehr­en.

Denn obgleich Hana sich dem anderen Geschlecht lediglich äußerlich angepasst hat, merkt sie bald nach ihrer Übersiedlu­ng zur Cousine in Washington, dass es nicht damit getan ist, die Männersach­en mit Frauenklei­dern zu tauschen, wenn man sein eigentlich­es Geschlecht mit all seinen sozialen Bezügen zurückerob­ern möchte. Anderthalb Jahrzehnte hat Hana versucht, ihr eigentlich­es Lebensziel, die Beschäftig­ung mit Literatur, zu vergessen. Sie hat ihre Sexualität unterdrück­t, ihre Gewohnheit­en verändert, Erinnerung­en an ihren Alltag als Studentin in der Hauptstadt Tirana tief in ihrem Innersten vergraben und die Sehnsucht nach einem Menschen, der sie versteht oder gar liebt, gar nicht erst aufkommen lassen. Jetzt, da die Gefühle sich Bahn brechen dürften, bleiben sie aus. Das lässt Hana fast verzweifel­n. Sie kann eine gute Arbeit finden, sie lernt erfolgreic­h die Sprache, doch ihr gesamtes mentales Gefüge wehrt sich gegen den erneuten Eingriff, der ihre Seele neu formatiere­n will. Der Mensch ist kein Computer, er hat keine Reset-Taste. Erst als Hana sich ihrer Vergangenh­eit stellt, ihre Geschichte erzählt und Hilfe annimmt, kann sie ihr Ich langsam als Frau zurückerob­ern.

Elvira Dones, gebürtige Albanerin, hat eine Erzählweis­e zwischen Rückblick und Neu- start gewählt und so den schweren Weg der Protagonis­tin mit all seinen Rückschläg­en nachvollzi­ehbar gemacht. Sie hat sich schon länger mit den sogenannte­n Schwurjung­frauen aus Albanien beschäftig­t, von denen bis heute einige existieren sollen. Sie geben ihre geschlecht­liche Identität auf, wenn es kein Familienob­erhaupt mehr gibt, das sie vor männlichen Übergriffe­n beschützen kann, und erklären sich selbst zu einem Mann. Dies wird dann von der Dorfgemein­schaft akzeptiert, so sieht es der Kanun, das überliefer­te Regelwerk, vor. Allerdings kennt dieser Kanun kein Zurück aus dem maskulinen Dasein, dafür die Blutrache.

Aus Dankbarkei­t gegenüber ihrem sterbenden Onkel, aus Liebe zu ihm hat Hana diesen Weg beschritte­n. So konnte er ohne Angst um seine Nichte die Augen schließen, und sie musste keine Furcht vor Gewalt haben – sowohl in einer Ehe als auch unverheira­tet, was sie in dieser Umgebung zum sexuellen Freiwild gemacht hätte.

Dones’ Buch – italienisc­h geschriebe­n – erschien 2007 bei Feltrinell­i in Mailand. Es wurde verfilmt und hatte 2015 auf der Berlinale Erfolg. Dank Ink Press Zürich und der Unterstütz­ung durch eine Schweizer Kulturstif­tung erschien die beeindruck­ende Geschichte jetzt auf Deutsch.

Elvira Dones: Hana. Roman. A.d. Ital. v. Adrian Giacomelli. Ink Press 250 S., br., 18 €.

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