Strahlung? Gut für die Knochen!
In der Türkei werden AKW in Erdbebengebieten gebaut, mit Unterstützung ausländischer Firmen / Energieminister ist Erdogans Schwiegersohn
Das Verharmlosen von Risiken, die mit Atomkraft zusammenhängen, hat in der Türkei Tradition. Unter der Regierungspartei AKP wird der Bau von Kraftwerken forciert – trotz bekannter Erbebengefahren. Die Mittelmeerküste in der Provinz Mersin ist eines der vielen Gebiete in der Türkei, die stark erdbebengefährdet sind. Hier wurde im April 2015 Grundsteinlegung gefeiert: für das erste zivile Atomkraftwerk des Landes. Akkuyu soll bis 2022 ans Netz gehen. 2010 war zwischen der türkischen und der russischen Regierung ein Abkommen darüber geschlossen worden, dass das Kraftwerk von der russischen Firma Rosatom Atomstroyexport gebaut und vorerst auch betrieben werden solle.
In einem weiteren Staatsvertrag – diesmal zwischen dem japanischen Premier Shinzo Abe und Recep Tayyip Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, nicht Staatspräsident, der Türkei – wurde 2013 der Bau eines wei- teren AKW beschlossen. Errichtet werden soll es in Sinop, einem ebenfalls erdbebengefährdeten Ort im Norden der Türkei. Verantwortliche Firmen sind die japanische Mitsubishi Heavy Industries (MHE) Itochu Corp sowie die französische Firma für Kraftwerkstechnik, Areva. Pläne, wenn auch noch nicht so ausgereift wie in Akkuyu und Sinop, gibt es auch für İğneada am Schwarzen Meer, 220 Kilometer nordwestlich von Istanbul mit seinen 15 Millionen Einwohnern.
In der Türkei kommt es regelmäßig zu Erbeben, jeder Bürger kennt die Verhaltensregeln bei Erschütterungen. Vor nicht einmal 20 Jahren, 1999, starben bei einem Beben 100 Kilometer östlich von Istanbul 18 000 Menschen, 50 000 wurden verletzt. Seit Jahren warnen Experten davor, dass ein solches Beben jederzeit mit Epizentrum in Istanbul stattfinden könnte – mit verheerenden Folgen. Warum lässt die Regierung Atomkraftwerke bauen, wenn die Erdbebengefahr allgemein bekannt ist?
Das Verharmlosen wissenschaftlich erwiesener Risiken, die mit der Kern- kraft zusammenhängen, hat in der Türkei Tradition – eine Tradition, die weit älter ist als die AKP-Herrschaft. Unbeeindruckt von Ereignissen wie Tschernobyl 1986 oder Fukushima 2011 bedienen sich türkische Politiker und Unternehmer eines Narrativs, das besagt, Atomenergie sei sicher und die einer aufstrebenden Wirtschaftsmacht wie der Türkei würdige Energie. Der Wunsch, AKW zu bauen, besteht dabei schon länger, doch erst die AKP hat die Pläne vorangetrieben. Verbunden ist mit ihnen Profit, aber auch Prestige. Ohne Atomenergie sei »keine Entwicklung möglich«, so der damalige Energieminister Taner Yıldız bei der Grundsteinlegung Akkuyus; Sein Amtsnachfolger ist im übrigen Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak.
Zweifel werden mit Lügen weggewischt: Nach der Fukushima-Katastrophe erklärte der damalige Ministerpräsident Erdoğan seinen Landsleuten, ihr in der Küche verwendeter Propangastank sei »genauso gefährlich wie Strahlung«. Und reihte sich damit ein in eine lange Liste ähnlich klingender Behauptungen hochrangiger türkischer Politiker. »Radioaktiver Tee schmeckt besser« hatte der einstige Premierminister Turgut Özal wissen lassen und der nach dem Militärputsch im September 1980 herrschende Diktator Kenan Evren behauptete, Strahlung sei gut für die Knochen.
Doch viele Menschen glauben dem nicht. Gegen den Bau der Atomkraftwerke gibt es Proteste. Diese sind – ebenso wie die »atomare Geschichte der Türkei« und die aktuellen Bauvorhaben – Thema eines in Arbeit befindlichen Dokumentarfilms des Regisseurs Can Candan. Christian Bergmann, Produzent des Films und Betreiber der Seite nuclearallaturca.com, berichtet im Gespräch mit dem »nd«, wie in der Frage der AKW auch die betroffenen Anwohnergemeinden gespalten seien. Anfang 2016 hätte das Filmteam, so Bergmann, Akkuyu besucht und dort festgestellt, dass die eine Hälfte der Anwohner den AKW-Bau ablehnte, während die andere Hälfte auf die Schaffung von Arbeitsplätzen hoffte. Bergmann weist auch darauf hin, dass schon jetzt die Gefahr atomarer Unfälle groß sei: Sowohl an der türkisch-bulgarischen Grenze als auch nahe der türkisch-armenischen werden alte Sowjetmeiler betrieben.
1955 war, so Bergmann, die Türkei zwar das »weltweit erste Land, dass eine Vereinbarung mit den USA über ein Atomenergieabkommen abschloss«; bereits im Mai 1962 wurde eine Atomforschungsanlage in Betrieb genommen. Der Einstieg in die zivile Nutzung aber würde erst unter der AKP erfolgen, sollte sie sich mit ihren Plänen durchsetzen. Die Türkei befinde sich, so Bergmann, am »Scheideweg ihrer atomaren Geschichte«.
In der Türkei kommt es regelmäßig zu Erbeben. 1999 starben bei einem Beben 100 Kilometer östlich von Istanbul 18 000 Menschen.