Europa, stillgestanden!
Mehr als 20 EU-Staaten wollen gemeinsame Rüstungs- und Militärprojekte forcieren
Berlin. Gut fünf Jahre, nachdem die Europäische Union wegen ihres angeblichen Einsatzes für »Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte« den Friedensnobelpreis erhalten hatte, setzt der Staatenverbund seinen Weg einer zunehmend militarisierten Außenpolitik fort. An diesem Montag werden Vertreter von mehreren EU-Staaten in Brüssel ein Papier unterzeichnen, in dem eine engere Zusammenarbeit im Militärbereich geregelt wird. Damit soll die Grundlage für den Aufbau einer europäischen Verteidigungsunion gelegt werden. Es ist geplant, dass sie im Dezember mit einer neuen Kooperation unter dem Titel »Stän- dige strukturierte Zusammenarbeit« (PESCO) offiziell beginnt.
Auch Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) und Verteidigungsressortchefin Ursula von der Leyen (CDU) unterstützen die Pläne. Nach Angaben aus EU-Kreisen wollen bisher mehr als 20 EU-Staaten bei PESCO mitmachen. Sie verpflichten sich damit freiwillig, in der gemeinsamen »Sicherheits- und Verteidigungspolitik« der EU voranzuschreiten, ausgesuchte Projekte gemeinsam umzusetzen und ihren Verteidigungshaushalt »regelmäßig real« zu erhöhen. Gabriel bezeichnete die Vorhaben als Meilenstein. »Seit Jahren wissen wir, dass sich Investitionen mit einem rein nationalen Fokus nicht mehr lohnen«, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. »Milliarden Steuergelder gehen jährlich zum Fenster raus für Verteidigungsausgaben, die den Anforderungen in einem drastisch veränderten Sicherheitsumfeld nicht gewachsen sind.«
Als ein Grund für die Eile beim Aufbau der Verteidigungsunion gilt die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Der Republikaner fordert von den Europäern ein stärkeres Engagement. Zudem wollen einige EU-Staaten in der Militärpolitik unabhängiger von den USA werden.
Allmonatlich trifft sich in Brüssel der Rat für Auswärtige Angelegenheiten, um das Handeln der EU zu koordinieren. An diesem Montag steht ein Ding namens PESCO und damit eine neue Qualität der Zusammenarbeit in der Sicherheits-, Verteidigungs- und Rüstungszusammenarbeit auf der Tagesordnung. Politisch und ökonomisch ein Riese, militärisch ein Zwerg – die EU will ihre absurden Minderwertigkeitsgefühle abstreifen. Nicht zuletzt, um den eigenen »Laden« zusammenzuhalten.
Wenn an diesem Montag in Rhöndorf am Fuße des Siebengebirges die Erde bebt, kann es nur einen Grund geben: Freude und Genugtuung. Am Rhein liegt der erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer begraben. Der CDU-Politiker feiert einen postumen Sieg. Adenauer wollte, vor allem um die bundesdeutsche Wiederbewaffnung voranzubringen, eine (west)europäische Verteidigungsgemeinschaft. Knapp sieben Jahrzehnte später wird sie Realität. Am Rande einer Tagung des Rates für Auswärtige Angelegenheiten der EU kommt es an diesem Montag zur sogenannten Notifizierung der Permanent Structured Cooperation, kurz PESCO.
Ein erster Plan für eine so weitreichende westeuropäische Streitkräfteintegration stammt aus dem Jahr 1950. Der französische Premierminister René Pleven schlug die Bildung einer Europäischen Armee vor. Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten alle sechs Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl den »Vertrag zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft«. Er sah 40 Divisionen und insgesamt 13 000 Soldaten mit einem gemeinsamen Haushalt, einem einheitlichen militärischen Beschaffungswesen und gemeinsamen Institutionen vor. Die Benelux-Länder und Deutschland ratifizierten den Vertrag, das französische Parlament aber sperrte sich.
Das war 1954. Immer wieder hat vor allem die deutsche Regierung Vorschläge unterbreitet, um innerhalb der EU militärische Kooperationen sowie eine Zusammenarbeit im Rüstungsbereich zu befördern. Vergebens. Doch vor wenigen Monaten ging plötzlich alles so schnell wie ein Panzerangriff auf Generalstabskarten. Schuld daran sind zwei Präsidentenwahlen. Donald Trump schockte die europäischen NATOVerbündeten mit Geringschätzung und drohte, die Zusammenarbeit auf rein pekuniäre Grundlagen zu stellen. Sein Wolfsgejaule am anderen Atlantikufer reichte aus, damit die verängstigten Europa-Schafe zur Herde zusammenrückten. Dann wählte eine Mehrheit der Franzosen Emmanuel Macron. Seit Mai im Präsidentenamt, tat er sich mit diversen Vorschlägen für eine Reform der EU hervor. In Berlin hieß es: Jetzt oder nie! Das Argument ist simpel: Es gibt einen gemeinsamen Markt, eine gemeinsame Währung, einen – mehr oder weniger – offenen SchengenRaum. Warum noch immer keine gemeinsame Verteidigungspolitik?
Doch bei aller Gemeinsamkeit der beiden EU-Führungsnationen – Macron schwebte eher eine exklusive Interventionstruppe vor. Der deutsche Ansatz ist breiter. Gemeinsam ist die Analyse der globalen politischen Situation: Im Osten fühlt man sich von Russland bedrängt. Im Süden droht auf Dauer Terrorismus. Cyberattacken nehmen zu. All das mache die europäische Sicherheitslandschaft so prekär wie zu keiner anderen Zeit seit dem Ende des ersten Kalten Krieges, heißt es auch in Brüssel. Also schob Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Debatte über eine Europa-Armee wieder an. Der Brexit besorgte den Rest. Mit Großbritannien hätte es in absehbarer Zeit keine PESCO – zu deutsch Ständige Strukturierte Zusammenarbeit – gegeben. Die NATO nahm ihre Skepsis erst zurück, als sie merkte, dass der Ausbau der militärischen Fähigkeiten innerhalb der EU auch ihren Interessen dient. Die USA sind begeistert vom Ausbau der militärischen Logistik in Europa. »Military Schengen«, also die weitgehend entbürokratisierte Bewegungsfreiheit der Truppen innerhalb der EU, wird ebenso anvisiert wie eine gemeinsame Offiziersausbildung. Auch das bereits gegründete Medical Command sowie diverse Trainingsmissionen gehören zu den derzeit 47 Zielen, die die an PES-CO interessierten EU-Staaten bislang auf die Liste gesetzt haben. Nicht alle müssen an allen Projekten teilhaben. Man sucht sich wechselseitig Partner für bestimmte Ziele.
Letztlich gipfelt alles in einer Optimierung der sogenannten EU-Battlegroups. Die machen den für die Bündnis- und Landesverteidigung bereitstehenden schnellen NATO-Eingriffsverbänden keine Konkurrenz. Die EU denkt eher daran, in Afrika – wie es heißt – mehr Verantwortung zu übernehmen. Und das zu geringeren Kosten. Angeblich, so eine Studie, sind die Durchschnittskosten für den Auslandseinsatz eines europäischen Soldaten um 310 000 Euro höher als die für den Einsatz eines US-Soldaten. Schon seit einiger Zeit mokieren sich EU-Planer darüber, dass die Gemeinschaft mit mehr als der Hälfte der US-Militärausgaben nur ein Zehntel des amerikanischen Fähigkeitsniveaus erreicht. Wie immer man das errechnet – insgesamt will man auch in der EU eine »faire Lastenteilung« erreichen. Nicht der, der sich – wie Deutschland – militärisch engagiert, soll am meisten zahlen müssen.
Das alles ist gepaart mit neuen gemeinsamen Planungsmodellen im Rahmen einer sogenannten Coordinated Annual Review on Defence (Koordinierter Jahresbericht zur Verteidigung). In diesem Rahmen müssen alle Mitgliedsstaaten ihre Fähigkeiten und Pläne offenlegen. Erste Schritte ist man gegangen bei der Rüstungskoordinierung. Die EU-Kommission hat Maßnahmen für eine vertiefte Rüstungszusammenarbeit und eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit beschlossen. Multinationale Rüstungsprojekte werden mit Geldern aus dem EU-Verteidigungsfonds vorangebracht, PESCO-Mitglieder bekommen einen Extrabonus.
Juristisch haben die ein leichtes Spiel. Der Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat, wurde auf Vorrat gestrickt. Er ermöglichte es allen EULändern, ihre Kooperation im militärischen Bereich zu verstärken und eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit zu begründen. So hatte die Bundesregierung, als sie Mitte Oktober ihre Teilnahme an PESCO beschloss, kein Problem, den Bundestag und damit nationale Einsprüche außen vor zu lassen. Dabei hatte der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) versprochen: »Der Lissabon-Vertrag stärkt sowohl die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments als auch die der nationalen Parlamente.« Man wird sehen, ob und wie sich der Bundestag seine Pflicht zur Regierungskontrolle in Sachen PESCO zurückholt.
Das, was an diesem Montag in Brüssel beginnt, ist ein langer Prozess, an dem sich nach bisheriger Darstellung 20 Staaten beteiligen. Nachzügler können sich bis zum 10. Dezember melden. Danach muss der Rat mit qualifizierter Mehrheit einen Beschluss zur Gründung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit und über die Liste der daran teilnehmenden Länder erlassen.