Wagenknecht drohte mit Rückzug
LINKE im Nahkampf: In der neuen Bundestagsfraktion ist ein offener Machtkampf ausgebrochen
Berlin. Die Arbeit der neuen Linksfraktion im Bundestag hat am Dienstag mit einem gehörigen Knall begonnen. Die 69 Abgeordneten waren zusammengekommen, um an zwei Tagen die Fraktionsspitze zu bestimmen sowie die Leitlinien für die nächsten Jahre zu diskutieren. Die beiden bisherigen Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch kandidierten wieder, aber was als Formsache erscheinen könnte, wurde zur knallharten Auseinandersetzung.
Denn Wagenknecht drohte in einem Brief an ihre Fraktionskollegen, der zu Beginn der Sitzung bekannt wurde, mit dem Verzicht auf das Amt, falls die Befugnisse der Fraktionsvorsitzenden per Beschluss eingeschränkt werden sollten. Zwar hatte der Geschäftführende Vorstand der Linkspartei die Wiederwahl von Wagenknecht und Bartsch empfohlen; doch gleichzeitig lag Medienberichten zufolge eine Reihe von Anträgen vor, die auf weitgehende Rechte für die beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger, ebenfalls Mitglieder der Fraktion, hinausliefen. Es geht dabei um Mitsprache im Fraktionsvorstand sowie das Erstrederecht bei wichtigen Themen, das eigentlich den Fraktionschefs zusteht. Damit setzt sich ein Konflikt fort, der schon bei der Ernennung der Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl schwelte.
Wagenknecht spricht in dem Brief von einem »penetranten Kleinkrieg« gegen die Fraktionsspitze »aus dem Hinterhalt und mittels Intrigen«. Die Anträge seien dazu da, »Dietmar Bartsch und mich vorzuführen«. Bartsch unterstützt laut einem Zeitungsbericht die Position Wagenknechts. Aus der Führung der Linkspartei, auch von den beiden Vorsitzenden hatte es mehrfach deutliche Kritik an Äußerungen von Sahra Wagenknecht wie auch von Oskar Lafontaine zur Flüchtlingspolitik gegeben.
Die Klausur der Linksfraktion wurde von Rücktrittsdrohungen der Vorsitzenden Sahra Wagenknecht überschattet. Sie erhob schwere Vorwürfe gegen die beiden Linksparteichefs.
Für Außenstehende ist es nicht leicht zu verstehen, was derzeit in Fraktion und Parteiführung der LINKEN passiert. Vor wenigen Wochen hat die Partei mit 9,2 Prozent der Stimmen ein halbwegs passables Ergebnis bei der Bundestagswahl eingefahren und insgesamt rund 540 000 Stimmen hinzugewonnen. Trotzdem streitet die LINKE nun so heftig wie lange nicht mehr über ihr Spitzenpersonal und die strategische Ausrichtung. Im Wahlkampf wurden viele Konflikte unter der Decke gehalten, die nun offen ausbrechen.
Die schärfste Konfliktlinie verläuft zwischen Partei- und Fraktionsführung. Sie war auch am Dienstag zu Beginn der zweitägigen Klausur der Bundestagsfraktion in Potsdam deutlich sichtbar. Dort drohte Fraktionschefin Sahra Wagenknecht in einem Brief an die Abgeordneten mit Rücktritt. In ihrem Schreiben hieß es, sie »sehe keinen Sinn darin, meine Kraft und meine Gesundheit in permanenten internen Grabenkämpfen mit zwei Parteivorsitzenden zu verschleißen, die offenkundig nicht zu einer fairen Zusammenarbeit bereit sind, wohl aber gute Kontakte zu bestimmten SPD-Kreisen haben, die in mir schon seit längerem ein großes Hindernis für eine angepasste, pflegeleichte LINKE sehen«.
Anlass des Schreibens sind offensichtlich Pläne von Katja Kipping und Bernd Riexinger. Die LINKE-Chefs wollten im Rahmen der Klausur vorschlagen, dass Wagenknecht und ihr Ko-Vorsitzender Dietmar Bartsch im Amt bleiben, aber zugleich ihren eigenen Einfluss in der Fraktion vergrößern. Mit ihrer Rücktrittsdrohung wollte Wagenknecht offenbar verhindern, dass bestimmte Anträge eine Mehrheit erhalten. Den Teilnehmern lagen nach Medienberichten Anträge vor, wonach die Parteivorsitzenden ein Erstrederecht im Bundestag erhalten sollen. Bisher ist dieses Recht Wagenknecht und Bartsch vorbehalten. Zudem kursierte die Idee, dass die Parteichefs, die auch im Bundestag sitzen, ein Stimmrecht im Fraktionsvorstand beanspruchen könnten.
Für Aufregung soll außerdem ein Antrag gesorgt haben, nach dem die Redner im Plenum des Bundestags »grundsätzlich die Mehrheitsauffassung der Fraktion« vortragen sollten. Dies kann als Angriff auf Wagenknecht gewertet werden. Bereits seit einiger Zeit wird in der LINKEN immer wieder über Aussagen von Wagenknecht zur Flüchtlingspolitik gestritten. Die Fraktionsvorsitzende sprach etwa von einem »Gastrecht« von Geflüchteten, das »verwirkt« werden könne. Im Wahlprogramm der Linkspartei hieß es hingegen, dass die Partei Abschiebungen ablehne.
Der Streit in der Partei war erneut hochgekocht, als der saarländische Fraktionsvorsitzende und Wagenknechts Ehemann, Oskar Lafontaine, kurz nach der Bundestagswahl der LINKEN und allen anderen Bundestagsparteien vorgeworfen hatte, mit »ihren Antworten auf die weltweite Flüchtlingsproblematik das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt« zu haben. Lafontaine beklagte in seinem Schreiben angebliche »Lasten der Zuwanderung«. Diese meinte er unter anderem in der verschärften Konkurrenz im Niedriglohnsektor zu erkennen.
Zahlreiche Funktionäre haben inzwischen erklärt, dass die liberale Flüchtlingspolitik der LINKEN nicht geändert werde. Lafontaines Kernfrage, warum die Partei nur noch ge-
Wagenknecht wollte verhindern, dass bestimmte Anträge eine Mehrheit erhalten.
ringen Erfolg bei Arbeitern und Erwerbslosen hat, treibt allerdings viele Genossen um. Auch in den Ostverbänden sind die Sorgen groß. Dort wanderten bei der Bundestagswahl mehr als 400 000 Unterstützer der Linkspartei zur AfD ab. Bartsch sagte laut dpa, er sei sich nicht sicher, dass die Verluste bei Arbeitslosen zuallererst mit dem Thema Flüchtlinge zu tun hätten. In seiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern sagten viele: »Ihr versteht uns nicht mehr.« Die LINKE, die in drei Ländern mitregiert sowie Oberbürgermeister und Landräte stellt, werde als Teil des Establishments wahrgenommen.
Bartschs größte Unterstützer sind die sogenannten Reformsozialisten, die vor allem in den ostdeutschen Landesverbänden stark sind. Sie zählen mit den Vertrauten von Wagenknecht zur Basis der Fraktionschefs. Unklar ist jedoch, wie groß ihre Unterstützung in der neuen Fraktion ist. Einige bisherige Abgeordnete sind ausgeschieden und neue hinzugekommen. Auch über die Vizeposten der Fraktion sollte in Potsdam diskutiert werden. Die Entscheidung über die neue Fraktionsführung stand nach der Generaldebatte vom Nachmittag am Dienstagabend an.
Der Streit in der Partei könnte weitere personelle Konsequenzen haben. Matthias Höhn, der kürzlich in den Bundestag eingezogen ist, soll angeblich keine Ambitionen mehr haben, als Bundesgeschäftsführer zwischen dem Lager der Parteivorsitzenden und den Unterstützern Wagenknechts zu stehen. Im Vorstand kursieren Gerüchte über seinen baldigen Rückzug. Im November soll eine Entscheidung getroffen werden.