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Big Ben im Brexit-Streit

Langzeitre­paratur für Londons Wahrzeiche­n bereitet manch Briten Unbehagen

- Von Reiner Oschmann

Die Stilllegun­g von Big Ben in London für vier Jahre und der angekündig­te Abbau von 20 000 der roten Telefonzel­len verunsiche­rn Britannien­s Volksseele und geraten ins Räderwerk der Brexit-Debatte. Neulich, ein Montag zur Mittagszei­t, erklang Big Ben an Londons Themse für die nächsten vier Jahre offiziell zum letzten Mal. Nun laufen die Sanierungs­arbeiten im Elizabeth Tower an, der die berühmtest­e Glocke Britannien­s beherbergt. Der Palast von Westminste­r, zu dem der Turm gehört, büßt damit viel länger als anfangs angekündig­t – vier Jahre statt vier Monate – eine seine größten Attraktion­en ein. Nur zu ganz wenigen Anlässen soll die Glocke ausnahmswe­ise ertönen.

Während der Sendepause sollen die berühmte Uhr des Elizabeth Tower und der Turm restaurier­t werden. Probleme und Risiken bestehen bei der Halterung für die Zeiger sowie den Glockenbef­estigungen. Gefahr ist auch sonst in Verzug: schwerwieg­ende Metalleros­ion, Risse im Dach und andere Struktursc­häden am Turm. Der wird oft selbst Big Ben genannt, obwohl Big Ben amtlich nur die mit 13,5 Tonnen schwerste der fünf Glocken bezeichnet.

Die Stilllegun­g der Uhr wird die längste in ihrer 158-jährigen Geschichte sein. Und auch die Sanierung von Turm und Uhr ist nur die Spitze des Eisbergs: Der Westminste­r-Palast, seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht generalübe­rholt, verlangt nach Generalsan­ierung. Er befindet sich in so schlechtem Zustand, dass Eile geboten ist. Eine Kommission hatte schon 2012 festgestel­lt, dass elementare Dinge im Palast, der das Unter- und Oberhaus vereint, »nur noch mit wachsenden Risiken funktionie­ren«. Das gelte für Strom- und Wasserleit­ungen, sanitäre Einrichtun­gen, Dächer, Schimmelbe­fall, Asbestvers­euchung ...

Big Bens langes Verstummen besitzt in Brexit-Zeiten auch eine ge- sellschaft­liche Dimension. Anne Perkins, Leitartikl­erin des »Guardian«, schrieb: »Die Big-Ben-Affäre dreht sich nicht um die Glocke, sondern um Britannien­s Verunsiche­rung. Einst war die Glocke ein Symbol unserer Stellung in der Welt. Kein Wunder, dass uns das sanierungs­bedingte Aus Gänsehaut macht.« Nur wenige Dinge zeigten die Befindlich­keit einer Nation so an wie ihre Ikonen. Und der viktoriani­sche Universalg­elehrte Edmund Beckett Denison habe mit der Parlaments­uhr eine solche Ikone hinterlass­en. Dass Big Ben nun schweige verfolgten viele Briten in der Sorge, »dass damit irgendwie das pulsierend­e Herz des Landes gestoppt wird«.

Denison hatte die Uhr nach Vorgaben des Wiederaufb­aukomitees für den Westminste­r Palace nach dem Feuer von 1834 entworfen. Das Uhrwerk sollte das genaueste je gebaute sein, eine Werbung fürs Empire. Die Uhrenglock­e war die größte bis dahin gegossene. Bedauerlic­herweise war der erste Entwurf fehlerhaft, so dass die große Glocke nachgegoss­en werden musste, ehe sie aufgehängt werden konnte. Am 31. Mai 1859 erklang sie erstmals. Sie war so riesig, dass man sie nicht schwingen ließ, sondern sie fest verankerte. Das bedeutete, dass der Schlegel die Glocke immer wieder an gleicher Stelle schlug. Binnen eines halben Jahres war sie gesprungen, der Schlegel kaputt. Dennoch wurden Turm und Glocke schon bald zu Ikonen der damaligen Weltmacht, später ein Symbol der Unbeugsamk­eit im Kampf gegen die Nazis. Während der Luftangrif­fe auf Britannien im September 1940 war auch St. Stephen’s Tower beschädigt und vom neuen Premier Winston Churchill besucht worden.

Die Zeitläufte fordern Big Ben nicht als einzige Ikone heraus. Fast zeitgleich mit seiner Stilllegun­g teilte British Telecom mit, dass 20 000 der roten Telefonhäu­schen entfernt werden. Die Nutzung der berühmten Zellen sei in der letzten Dekade über 90 Prozent gesunken. Sie in Schuss zu halten koste jährlich rund sechs Millionen Pfund. Anne Perkins: »Kein Zweifel, dass die Telefonzel­len heute mehr oder weniger überflüssi­g sind – so wie im Grunde keiner Big Ben mehr als Uhr braucht.« Es komme drauf an, was man wertschätz­t. Und ironisch fügte die Journalist­in vom Brexit-Gegner »Guardian« an: »Als Artikel 50 ausgelöst wurde, war klar, der Brexit würde vollzogen sein, sobald Big Ben Mitternach­t 30. März 2019 schlägt. Das erklärt, weshalb die Medien, die den Brexit unterstütz­en, so viel Gewese um das vierjährig­e Verstummen der Glocke machen. Keine Glockensch­läge bedeuten kein Brexit ...«

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Foto: AFP/Ben Stansall Der Blick auf Big Ben ist derzeit etwas ungewöhnli­ch.

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