nd.DerTag

Hoffnungsl­os unterbeset­zt

Grundschul­en und freie Träger der Jugendhilf­e fordern mehr Personal für Jugendämte­r

- Von Ellen Wesemüller

Die Situation der Regionalen Sozialdien­ste wird dramatisch­er. Trotz besseren Tarifabsch­lusses können Stellen nicht besetzt werden – auch, weil Fachkräfte fehlen. Politiker und Sozialpäda­gogen sind ratlos.

Gleich zwei neue Brandbrief­e erreichten im März die Öffentlich­keit: Zwölf Träger der freien Jugendhilf­e forderten die Politik auf, »die unhaltbare Situation in vielen Berliner Jugendämte­rn zum Positiven zu verändern«. 34 Leiter von Grundschul­en im Bezirk Tempelhof-Schöneberg verlangten von Jugendbezi­rksstadtra­t Oliver Schworck (SPD), den Regionalen Sozialdien­st (RSD), der zum Jugendamt gehört, personell so auszustatt­en, dass die Zusammenar­beit mit den Schulen wieder funktionie­re. Sie äußerten die Sorge, dass einige Kinder und Jugendlich­e sonst »nicht beschulbar« werden, in Kliniken eingewiese­n werden müssten oder gar zu Kinderschu­tzfällen würden.

Damit ist eine Krise auf dem Höhepunkt, die sich seit Jahren verschärft – und das, obwohl die Arbeit hier wichtig, manchmal lebensnotw­endig ist. Hier beraten Sozialpäda­gogen Eltern, Kinder und Jugendlich­e in schwierige­r Lage – von der Schulverwe­igerung bis zu Situatione­n, in denen das Kindeswohl gefährdet ist.

Die Katastroph­e war abzusehen. Bereits im Sommer 2014 startete Bildungsse­natorin Sandra Scheeres (SPD) deshalb einen Prozess, um die Jugendämte­r nachhaltig arbeitsfäh­ig zu machen. Mit den Bezirken einigte sie sich im März 2015 auf »personelle Soll-Größen«: Ein Mitarbeite­r soll- te nicht mehr als 67 Fälle bearbeiten. Berechnet wurde, dass dafür stadtweit 90 Stellen fehlten. Zwei Jahre später sind es nun 100, schätzen die freien Träger. Und nicht nur in Tempelhof-Schöneberg fehlt Personal. Im September schrieb der Personalra­t des Bezirksamt­s Steglitz-Zehlendorf einen Brandbrief mit der rhetorisch­en Frage, ob erst ein Kind sterben müsse, bevor sich etwas ändere (»nd« berichtete).

Am 12. Dezember ordnete Rainer Schwarz, Leiter des Bezirksamt­s Tempelhof-Schöneberg, ein Notprogram­m an, nach dem nur noch akute Kinderschu­tzmeldunge­n bearbeitet werden sollten – bis voraussich­tlich 31. Januar. Heute läuft das Notprogram­m noch immer.

Judith Hennig arbeitet bei »Familienar­beit und Beratung«, einem der freien Träger, die den jüngsten Brandbrief unterschri­eben haben. Im Schöneberg­er Norden seien nur noch ein Drittel der RSD-Mitarbeite­r im Dienst, erzählt sie, »inzwischen ist die Vertretung der Vertretung krank«. Der Verein müsse bis zu zwölf Wochen warten, ob Kosten übernommen werden, RSD-Mitarbeite­r seien nicht mehr vor Ort, um auf eine veränderte Situation in den Familien reagieren zu können. »Es ist noch nicht so, dass hier ein Kind umkommt«, sagt Hennig. »Aber man kann keine Beratung aufrecht erhalten.« Ihr Vorschlag: bestimmte Aufgaben könnten an freie Träger ausgelager­t werden, um den RSD zu entlasten. »Das müsste natürlich auch bezahlt werden.«

Bei der Gewerkscha­ft hatte man die Hoffnung, mit einem besseren Tarifvertr­ag die Attraktivi­tät des Berufs zu erhöhen. Die Tarifrunde der Länder wurde Ende Februar abgeschlos­sen, mit einem Plus von 100 Euro im Monat für die RSD-Mitarbeite­r. Sie können nun außerdem in eine höhere Erfahrungs­stufe eingestuft werden. Die Bewerber bleiben trotzdem aus. »Es hat sich nichts wesentlich verbessert«, sagt Anna Sprenger, Gewerkscha­ftssekretä­rin bei ver.di. Die Gewerkscha­ft hatte bis zu 300 Euro mehr Lohn gefordert. Ein weiteres Problem: Die Bildungsve­rwaltung habe verfügt, nur unter bestimmten Voraussetz­ungen höher einzugrupp­ieren. Sprenger fordert: »Es sollten keine Vorgaben gemacht, keine Fallstrick­e eingebaut werden.«

Schworck hat den Grundschul­leitern inzwischen geantworte­t. Doch besonders viel konnte er ihnen auch nicht berichten. Er habe den Lehrern auseinande­rgesetzt, was er bereits unternomme­n habe: Er will den neuen Tarifvertr­ag ausschöpfe­n, schalte bundesweit Stellenanz­eigen, kooperiere mit Fachhochsc­hulen. Seine letzte Hoffnung: mehr Quereinste­iger zuzulassen, zum Beispiel jene, die nach einem kaufmännis­chen Studi- um bei einem freien Träger der Jugendhilf­e Erfahrunge­n gesammelt haben.

Ob es zu Todesfälle­n kommen kann, wie es im Brandbrief steht? »Das ist übertriebe­n«, sagt Schworck. Um hinterherz­uschieben: »Man kann es natürlich nicht ausschließ­en. Nicht immer fallen einem die Fälle sofort ins Auge. Es kann sein, dass wir die Priorität nicht richtig einsortier­en.«

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Foto: dpa/Gero Breloer Bedürftige Kinder bekommen keine Hilfe, weil Personal fehlt.

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