Der kleine Heiler
Louise Erdrich über die Tragödie zweier Familien dies- und jenseits der »Reservatsgrenze«
Der Roman handelt in North Dakota in den Jahren 1999 bis 2004. Aber die Autorin hat darin verschiedene Erzählebenen und Traditionen verwoben. Sie erzählt Familiengeschichte, wie wir sie in guter US-amerikanischer Erzähltradition seit Faulkner kennen. Man liest von fleißigen, redlichen Menschen (untere Mittelschicht heißt das heute), deren Leben durch ein unvorhergesehenes Ereignis aus dem Gleichgewicht gerät. Auch das kennen wir, beispielsweise aus Storys von Hemingway bis Doctorow. Zudem behandelt das Buch die Geschichte der Indianer in North Dakota seit über hundertfünfzig Jahren, wie wir sie – überhaupt noch nicht gelesen haben. Das ist das Besondere des Romans.
Und weil Louise Erdrich das in einer ganz eigenen, intensiven Weise erzählt, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen bitterer historischer Wahrheit und Märchenhaf- tem schillert, ja manchmal zu schweben scheint, verzeihen wir ihr auch die Kartoffelsalat-Party der Teenies im letzten Kapitel, mit der sie uns in die banale Gegenwart zurückholt.
Lebendig wird die Geschichte »zweier Häuser«, wie das erste Kapitel überschrieben ist, bzw. zweier Familien, der von Landreaux Iron und der von Peter Ravich. Die Ehefrauen der beiden, Emmaline und Nola, sind Halbschwestern. Schon der erste Satz enthält das Wort »Reservatsgrenze«. Die ist aber, wie wir gleich erfahren, von Buschwerk überwachsen und verbindet die Ravichs und Irons samt ihren Kindern diesseits und jenseits der Linie eher, als dass sie sie trennt.
Alt und Jung pflegen freundschaftliche Beziehungen. Peter Ravich hat polnische Wurzeln, er betreibt eine Farm, Landreaux’ Familie gehört zu dem Indianerstamm der Ojibwe. Er ist Krankenpfleger und ein geschickter Kleinwildjäger. Schon sein Großvater hatte ihn mitgenommen, wenn er zum Jagen ging. Und nun ereignet sich eines Tages – wohl nicht zufällig genau auf der Reservatsgrenze – Furchtbares. Es ist ein goldener Herbsttag. Landreaux hat den Hirsch schon lange im Visier gehabt. Er schießt. Der Hirsch springt weg. Landreaux hat Dusty, den kleinen Jungen und einzigen Sohn seines Nachbarn Peter erschossen.
Es ist grauenvoll, es ist nicht fassbar, aber es ist die Wahrheit, und alles wird sich nun verändern. »Wenn das Chaos, das Unheil in die Welt kommt, pflanzt es sich immer weiter und weiter fort. Selten bleibt es bei nur einem Unglücksfall. Das wissen die Indianer. Es aufzuhalten, erfordert großen Einsatz.« Landreaux und Emmaline rufen in ihrer Schwitzhütte nach altem Indianer-Ritus die Schutzgeister zu Hilfe und beschließen, ihren eigenen Sohn LaRose, gleichen Alters wie Dusty, zur Familie Ravich zu geben. Es folgt eine schreckliche Leidenszeit für alle. Peter verschließt sich, Nola ist ständig am Rande des Selbstmords, ihre neunjährige Tochter Maggie wird eigenwillig und sehr gefährdet. Auch die Eltern von LaRose können den Verlust kaum ertragen. Es kommt zu allerlei hilflosen Absprachen.
Aber da ist ja auch der kleine LaRose selbst. So wenig er zunächst von diesen Dingen und Abmachungen verstehen mag, er ist das geliebte Kind aller und wird, fast unbewusst, zu einem – sagen wir es einfach so – zu einem kleinen Heiler. Durch ihn gelingt es schließlich, dass die Familien wieder zusammenfinden. Aber das dauert Jahre.
Die Autorin erzählt das alles sehr eindringlich und realistisch, und sie fügt, wie schon erwähnt, diese Ereignisse in ein ganzes Familien- und Personengeflecht ein, das weit in die Vergangenheit zurückgeht. LaRose ist nicht zufällig mit besonderen Kräften begabt, sie sind ihm seit Generationen zugewachsen. Vier LaRoses hat es in der Familie vor ihm gegeben, alles waren übrigens Frauen, starke Frauen, Kämpferinnen, Heilerinnen, die die Früchte und Kräfte der Natur zu nutzen wussten und von den Geistern mit der Kunst des Fliegens und Abhebens beschenkt waren. Sie alle haben, wie die Männer der OjibweIndianer auch, die amerikanische Internats- und Zwangseingliederungspolitik durchlebt und erlitten, und alle haben Wunden und Blessuren davongetragen, ganz besonders der Nichtsnutz Romeo, der stibitzt, wo er kann, ob im Reservat-Pflegeheim oder an der »Tanke«, und der eines Tages mit seinem Freund-Feind Landreaux abrechnen will. Am Ende erweist er sich dann aber doch als nützlich.
Eine Person muss noch ganz besonders erwähnt werden: Father Travis, ein ehemaliger US-Marine, der in Beirut das große Sterben erlebt hat und sich nun um die Menschen ganz unten kümmert. Ausgerechnet er und Romeo sind es, die im banalen Alltag die menschlichen Tragödien und die großen Katastrophen Amerikas wahrnehmen.
Louise Erdrich: Ein Lied für die Geister. Roman. Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder. Aufbau Verlag. 444 S., geb., 21,95 €.