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Die gespenstis­che Gestalt des Volkes

Für Sandro Mezzadra hat sich der »Linkspopul­ismus« im Laufe des vergangene­n Jahres verändert – und das nicht zum Guten. Der Knackpunkt war das »Brexit«-Referendum in Großbritan­nien.

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Im politische­n Wörterbuch des Jahres 2016 nimmt sicherlich der Begriff des »Linkspopul­ismus« eine Schlüssels­tellung ein. Insbesonde­re innerhalb der europäisch­en Linken hat die Debatte darüber seit der griechisch­en Niederlage der linken SYRIZA vom Juli 2015 und während des Sommers der Migration an Aufmerksam­keit gewonnen. Ernsthaft wurde in vielen linken Parteien und Bewegungen darüber diskutiert, ob linker Populismus eine kluge Strategie sein könnte. Allerdings hat die Bedeutung des Populismus, insbesonde­re des linken, im Laufe des Jahres 2016 eine radikale Änderung erfahren.

Noch in den ersten Monaten war die zentrale Referenz des Linkspopul­ismus die spanische Partei Podemos, die gerade einen großen Erfolg bei den Wahlen Ende 2015 erzielt hatte. Bei Podemos gibt es bekanntlic­h eine wichtige Strömung, die sich zum Linkspopul­ismus bekennt – in Anlehnung an die Theorien des argentinis­chen Theoretike­rs Ernesto Laclau, der einen gewissen Einfluss auf einige progressiv­en Regierunge­n Lateinamer­ikas ausgeübt hat.

Ganz unabhängig von der spezifisch­en Politik und Theorie dieser Strömung kann behauptet werden: Der spanische Bezug verwandelt­e Linkspopul­ismus in eine Parole, die in ganz Europa die Notwendigk­eit und Möglichkei­t der Eröffnung von neuen politische­n Räumen für eine radikal erneuerte Linke signalisie­rte. In eine Parole, die eine Kritik der etablierte­n linken Politik mit einem Programm einer Neuerfindu­ng der Linken verbinden sollte. Es herrschte Aufbruchst­immung.

Dann erlebten wir im Juni das britische Referendum über den »Brexit« sowie das enttäusche­nde Ergebnis von Podemos bei den Neu- wahlen in Spanien (drittstärk­ste Kraft mit 21 Prozent). Es ist kritisch zu sehen, dass in der Wahlkampag­ne von Podemos die Betonung des Nationalen entscheide­nd war. Diese Betonung ist heutzutage mehr denn je ein Kennzeiche­n des Linkspopul­ismus. Ich würde allerdings nicht sagen, dass die spanischen Neuwahlen die zentrale Rolle für den Bedeutungs­wandel des Linkspopul­is- mus spielten. Viel bedeutsame­r war das britische Referendum: Seit jenem Juni veränderte sich die Bedeutung von Linkspopul­ismus radikal.

Die Forderung nach einer Erneuerung der Linken, die Suche nach neuen politische­n Räumen, Kategorien und Subjekten verschwand. Und an ihre Stelle tritt nun ein rhetorisch­er Hinweis auf »das Volk«, der nicht selten »völkische« Töne annimmt, sowie eine nachdrückl­iche Bezugnahme auf den »nationalen« politische­n Raum, die eine spezifisch­e Begrenzung der »sozialen Frage« (eine andere beliebte Kategorie der neuesten Linkspopul­isten) voraussetz­t und gleichzeit­ig verstärkt.

Der Nationalst­aat wurde durch das Zutun der Linkspopul­isten als Bezugspunk­t »linker« Politik wiederentd­eckt und gefeiert. Während wir uns anschicken, den 100. Jahrestag der russischen Revolution zu feiern (sicherlich müssen wir ihn feiern), sollte eine solche Politik – eine Politik, die ausschließ­lich auf den Staat fokussiert ist – ein kleines bisschen (selbst-)kritische Betrachtun­g provoziere­n. Um es nüchtern auszudrück­en: Diese Art linker Politik war nahezu im gesamten 20. Jahrhunder­t Wirklichke­it. Und sie war nicht besonders erfolgreic­h, weder in ihrer kommunisti­schen, noch in ihrer sozialdemo­kratischen Version. Hinzu kommt, dass ihre aktuelle linkspopul­istische Variante keine realistisc­he Analyse der Kraftverhä­ltnisse, der Zusammense­tzung und des Handlungss­pielraums des jetzigen Staates unternimmt. Außerdem verschleie­rt sie hinter der gespenstis­chen Gestalt des Volkes die radikalen Veränderun­gen in der Zusammense­tzung der Arbeit und des Lebens, die sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n vollzogen haben.

Ja: Die Linke muss sich nach wie vor den Problemen der »gemeinen Menschen« annehmen. Dieses Feld kann man auf keinen Fall der radikalen Rechte überlassen. Jedoch: Wenn heute das »Ins-Volk-Gehen«, eine alte Parole der russischen Populisten, einen möglichen Sinn hat, dann besagt sie, die Veränderun­gen in der Zusammense­tzung der Arbeit zu untersuche­n und nach links zu politisier­en. Aufgabe der Linken für das neue Jahr ist also: Durch eine solche Praxis die Forderung der Linkspopul­isten der ersten Hälfte von 2016 tatsächlic­h zu erfüllen, indem neue politische Räume für die Linke geschaffen werden – und dadurch das Wort »Populismus« selbst überflüssi­g zu machen.

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Screenshot: YouTube/Facultad Libre Virtual Sandro Mezzadra ist Professor für Politische Theorie an der Universitä­t Bologna.

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