Im Internet fristen allerhand Scheinexistenzen ihr Dasein.
Als neulich ruchbar wurde, dass die SPD Spitzenpolitiker gegen Zuwendungen zur Parteikasse auftreten lässt, war Erich Honecker unverzüglich mit einem Kommentar zur Stelle. »Damals kam die SPD noch umsonst zu Besuch! #rentasozi«, teilte er auf dem Kurznachrichtendienst Twitter süffisant mit und stellte ein Bild dazu, das ihn und Bundeskanzler Helmut Schmidt beim Staatsbesuch in der DDR zeigt. Hunderte seiner Fans fanden diese Wortmeldung gut. Wenn der Erich das noch erleben könnte … Denn der Erich ist natürlich nicht Erich. Auf Twitter existiert ein Account namens @DerWahreErich, dem mittlerweile mehr als 6000 andere Nutzer folgen. Beigetreten ist er – wer auch immer dahinter steckt – dem Netzwerk vor drei Jahren. Natürlich spricht @DerWahreErich seine Follower konsequent mit »Genossen« an; diesen Luxus leistet er sich, obwohl bei einer maximalen Textlänge von 140 Zeichen auf Twitter jeder Buchstabe wertvoll ist.
Vor allem dann, wenn man wie @DerWahreErich die Überlegenheit des Sozialismus auch gut zweieinhalb Jahrzehnte nach dessen Zusammenbruch loben und preisen muss. »Mit Aplomb erobert sich das Kollektiv des #RBLeipzig die Tabellenspitze zurück und ließ dem Westberliner Damenkränzchen keine Chance!#RBLBSC«, kommentierte er jüngst den Sieg der Leipziger über die Hertha in der Fußball-Bundesliga. Da stört ihn auch nicht weiter, dass RB Leipzig nur dank kräftiger Kapitalspritzen aus dem dem NSW, dem nichtsozialistischen biet, entstanden ist.
@DerWahreErich, das ist das ziemlich genaue Gegenteil des Originals. Sprach der tatsächliche Generalsekretär hölzern, bürokratisch und alles andere als ungezwungen, so entfaltet sein virtueller Doppelgänger durchaus Witz. Das Weihevolle, seiner Bedeutsamkeit enthoben, besitzt kein geringes Humorpotenzial. »Bei einer Wiederwahl mit 89,5 % hätten mich damals die Genossen der KPdSU als Lampenanzünder nach Petrograd versetzt! #CDUpt16«, meldete sich @Der Wahre Erich nach dem jüngsten CDU-Parteitag zu Wort, auf dem Angela Merkel als CDU-Vorsitzende bestätigt worden war.
Man stelle sich vor, so etwas wie Twitter hätte es schon zu DDR-Zeiten gegeben. Eine Kommunikationsform, die in Windeseile ein großes Publikum erreicht – allerdings nur kurze, möglichst pointierte Mitteilungen erlaubt. Welche disziplinierende Wirkung das ausgeübt hätte; wie es die politische Rhetorik hätte beeinflussen kön- Wirtschaftsge- nen. Weniger langatmige Reden, mehr griffige Argumente. Weniger Kommuniques, mehr Schlagfertigkeit. Weniger Langeweile, mehr Witz.
Das bleibt nun den Imitatoren vorbehalten. Denn @DerWahreErich ist nicht allein. Auch @DieWahreMargot, @gschabowski, @stoph_w und andere so genannte Fake-Accounts sind mehr oder weniger aktiv. Und mehr oder weniger originell. Juristisch kommt ihnen niemand in die Quere; die historischen Vorbilder haben längst das Zeitliche gesegnet.
Doch auch lebende und aktive Politiker legen sich kaum einmal mit denen an, die sich auf Kosten ihrer Bekanntheit um Klicks in den sozialen Netzwerken bemühen. In jedem halbwegs nennenswerten Wahlkampf werden Spitzenkandidaten mit Fake-Accounts gedoubelt und karikiert – Frank-Walter Steinmeier ist es 2009 ebenso ergangen wie Peer Steinbrück 2013 und Angela Merkel über all die Jahre. Sie hüten sich in aller Regel, ihren Klonen das virtuelle Handwerk zu legen, denn das würde denen ungleich mehr Aufmerksamkeit verschaffen. Und außerdem gilt es in Zeiten der digitalen Medien als uncool, als nicht kritikfähige Spaßbremse in Erscheinung zu treten. Einer der Merkel-Darsteller merkt in der Selbstbeschreibung seines Profils dennoch an: »Satire Account. Wir bitten von Klagen abzusehen.«
Diese unbeholfene Bitte ist nicht ganz unberechtigt. Denn die Toleranz der Karikierten hat dort ihre Grenzen, wo der Fake-Account allzu nahe an die Fake-News heranrückt. Wo also der Anschein erweckt wird, es handele sich um die echte Seite eines echten Politikers oder einer echten Behörde. Das kann im Ernstfall bis vor Gericht führen. So geschah es einem jungen Mann aus Magdeburg, der aus Ärger über die Bürokratie in der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt einen Facebook-Account mit dem Namen »Ordnungsamt Machteburg« (anfangs noch »Ordnungsamt Magdeburg«) einrichtete. Er sah das
als Satire; die Kommune allerdings fand es gar nicht lustig, dass das vermeintliche Ordnungsamt, geschmückt mit dem Wappen der Stadt, Stellen für Sachbearbeiter ausschrieb, kostenlose Parkplätze anbot und jedem Bürger einen Euro Belohnung versprach, der einen Hundehaufen aufsammelt und im Fundbüro abliefert.
Zumindest letzteres kann eigentlich niemand ernst nehmen, der noch beide Magdeburger Halbkugeln beisammen hat, aber dennoch stiftete das selbst ernannte Ordnungsamt einige Verwirrung – trotz der offensichtlich unkorrekten und mit dem regionalen Dialekt spielenden Schreibweise. Der freiwillige Ordnungshüter wurde zur Unterlassung verurteilt, beharrte aber darauf, dass die »Zuordnungsverwirrung«, die seine Seite nach Ansicht des Gerichts ausgelöst habe, nicht einmal bei seiner Oma aufgetreten sei. Die habe erkannt, dass alles ironisch gemeint gewesen sei.
Mit solchen Vorwürfen muss sich @DerWahreErich nicht herumschlagen. Er kann sich ungestört in seiner Twitternische produzieren, und zwar auf so verquere Weise, dass man nie genau weiß, ob er nun die DDR, die heutigen Zustände oder seine Follower auf den Arm nimmt. Der tatsächliche Erich indessen, Erich Honecker, hat gelegentlich bewiesen, dass tief in ihm ein Twittertalent schlummerte. Denn eine seiner bleibenden Sentenzen könnte auch das Leitmotiv der nie ruhenden Netzkommunikation sein: »Vorwärts immer, rückwärts nimmer!« Ein Tweet wie aus dem Lehrbuch: kurz, einprägsam, vielseitig verwendbar. »Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt.« (Joachim Ringelnatz) Manchmal sah es in diesem Jahr so aus, als wüsste die Kanzlerin nichts von jenem Knopf, der ihr die Dauerauseinandersetzungen in der Union erträglicher gemacht hätte. So spitzbübisch wie hier abgelichtet war Angela Merkel eher selten zu sehen. Insbesondere wenn sie mit CSU-Chef Horst Seehofer über die Flüchtlingspolitik debattierte und sich seinem Abgrenzungskurs zwar inhaltlich, aber nicht semantisch anschloss, hatten die Fotografen nur mit ihren sattsam bekannten hängenden Mundwinkeln zu tun. Und selbst als die 62-Jährige bekanntgab, den Kampf um die Fortsetzung ihrer jetzt schon elfjährigen Kanzlerschaft aufnehmen zu wollen, und sie auf dem Essener Parteitag als CDU-Chefin wiedergewählt wurde, konnte sie nach kurzem Lächeln kaum verbergen, dass ihr schon wieder der Kragen zu platzen droht.