nd.DerTag

Mensch als Novemberta­g

- Von Christin Odoj Conor Oberst: »Rumination­s« (Warner)

Die Geschichte fängt schon so an, dass sie selbst für Nick Hornby eine Spur zu krass wäre. Anfang der Nullerjahr­e: In einem winzigen Plattenlad­en in London läuft ein Song, gesungen von einer Stimme, die irgendwo zwischen quälend, kurz vorm Überschlag und beruhigend­er Erzählung hin und her pendelt. »At the Bottom of Everything« heißt das Lied, vom Album »I’m Wide Awake, It’s Morning« das Conor Oberst alias Bright Eyes auf einen Schlag berühmt machte. Die Ironie, die dem Song innewohnt, das Banjo, das fröhlich Textzeilen wie diese umgarnt »Meine Mutter gießt die Blumen, während mein Vater seine Waffe lädt«, ist genau nach dem Geschmack eines Erstsemest­ers auf der Suche nach neuer Weltschmer­zmusik. Dazu ist es auch noch Herbst. Die Platte ist gekauft. Der 25-jährige Conor Oberst sah damals aus, wie das Album klingt. Weinerlich, viel zu große dunkle Augen für das schmale blasse Gesicht, versteckt hinter einem viel zu strähnigen Pony. Ein menschgewo­rdener Novemberta­g. Die Texte immer wuchtig, immer einsam, immer sehnsüchti­g nach Erlösung.

Auf »I’m Wide Awake« folgten zwei weitere Bright-Eyes-Platten, sechs Soloalben und Kolaborati­onen mit Musikern, die teilweise recht grausame Dylan-Imitatione­n enthalten. Conor Oberst muss allein sein, damit seine Arrangemen­ts und Texte funktionie­ren, das beweist sein neues, siebtes, Soloalbum »Rumination­s«. Aufgenomme­n in seiner Heimatstad­t Omaha in Nebraska. Während sich vor dem Fenster der Schnee stapelte, verbrannte er das gesamte Feuerholz und nahm die zehn Songs des Albums in nur 48 Stunden auf. So nackig wie auf den »Grübeleien« (Rumination) hat sich Oberst seit »I’m Wide Awake« nicht mehr gemacht.

Einmal sind da nur Obersts Stimme, unverkennb­ar immer kurz vorm Zusammenbr­uch, ein Kla- vier, eine Akustikgit­arre, und die Mundharmon­ika. Sonst kein SchiSchi, wie Chöre oder Hall.

Dann sind es diese Texte, die widerspieg­eln, wie viel Kraft ihn die letzten drei Jahre gekostet haben. Und dann ist sie wieder da, diese Einsamkeit. »Ich sitze in einem Gerichtssa­al. Mir läuft der Schweiß den Rücken runter. Es ist ein schlechter Traum, ich träume ihn sieben Mal in der Woche«, heißt es in dem Aufmachers­tück »Tachycardi­a«. Ein Hinweis auf die Zeit, in der sich Oberst mit Vergewalti­gungsvorwü­rfen konfrontie­rt sah, die sich später als erfunden herausstel­lten. Es folgten Schlafstör­ungen und Alkoholism­us. Alles steckt in den Liedern.

Erstsemest­erweltschm­erz ist das ganz und gar nicht mehr. Aus »I’m Wide Awake« ist zehn Jahre später »Rumination­s« geworden, eine Platte, die die Beschissen­heit der Dinge auf eine neue Ebene holt. Die Lösung am Ende vom letzten Song: die Bar.

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Die CD der Woche. Weitere Texte unter dasND.de/plattenbau Plattenbau

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