Erste Schritte auf einem weiten Weg
Was haben zwei Jahre Branchenmindestlohn in der Fleischindustrie gebracht? Die NGG zog Bilanz
Trotz Mindestlohns bleiben die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie problematisch. Gewerkschafter klagen über das Werkvertragsystem. Als vorbildlich gilt in dieser Hinsicht Westfleisch. Es gibt die Schlagzeilen, die Clemens Tönnies gerne über sich liest. Und es gibt diejenigen, die ihm nicht so sehr gefallen dürften. Am Mittwoch produzierte er beide Sorten davon. Als Aufsichtsratsvorsitzender des Fußballbundesligisten Schalke 04 besuchte Tönnies den verletzten Stürmer Breel Embolo und ließ sich für die Internetpräsenz des Clubs zusammen mit Embolo ablichten. Ein Sportmagazin sprach daraufhin von »Zuspruch von höchster Stelle« für den verletzten Spieler.
Schlagzeilen, die Clemens Tönnies wohl nicht gerne liest, sind beispielsweise solche, die ihn – und nicht seinen Stürmer – als »Trickser« bezeichnen. Am Mittwoch wurde bekannt, dass Tönnies eine Strafe von 128 Millionen Euro, die von den Tochterunternehmen Böklunder und Könecke wegen illegaler Preisabsprachen hätten gezahlt werden sollen, nicht zahlen muss. Tönnies hatte beide Unternehmen aus dem Handelsregister gelöscht, ihre Betriebe an eine andere Konzerntochter verschoben. Die Strafe wurde hinfällig. Derzeit steht eine Reform des Kartellrechts in Deutschland an. Künftig sollen, wie auch bei europäischen Verfahren, die Mutterkonzerne in Haftung genommen werden.
Doch nicht nur in diesem Kartellverfahren ist das Geschäftsgebaren von Tönnies nicht unbedingt ganz sauber. Auch Beschäftigte klagen immer wieder über schlechte Bedingungen. Der Ort der »Fleischkonferenz«, zu der die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) am Mittwoch eingeladen hatte, war also nicht zufällig gewählt: Man traf sich in einem Konferenzzentrum in Rheda-Wiedenbrück – keine 500 Meter entfernt also von der Zentrale der Tönnies Lebensmittel GmbH & Co. KG. Sozusagen am »Fettfleck Deutschlands«, wie es die Einladung drastisch formulierte.
Zu Beginn der Konferenz sprach die NGG-Vorsitzende Michaela Rosenberger davon, dass man mit dem Branchenmindestlohn einen Erfolg erreicht habe. Doch sei es noch ein weiter Weg, bis es in der Fleischindustrie gute Arbeitsbedingungen gäbe. Als nächster Redner erklärte Roland Matzdorf vom nordrhein-westfälischen Arbeitsministerium, dass NRW ja viel für »faire Arbeit« tue, aber nur beschränkte Mittel habe. Immer wieder sei man Angriffen durch Arbeitgeber ausgesetzt, und man müsse sich mit Bundesbehörden wie dem Zoll abstimmen, wenn man gegen Sozialdumping vorgehen wolle. Matzdorf sprach aber auch einen anderen wichtigen Punkt an. Schlechte Arbeitsbedingungen seien nur nach Skandalen Thema in Medien und Politik, das müsse sich ändern, erklärte der Sozialdemokrat.
In Rheda-Wiedenbrück wurde aber nicht nur geredet, dass DGB-Projekt »Faire Mobilität«, das sich für gerechte Löhne von Arbeitern aus mittel- und osteuropäischen EU-Staaten einsetzt und seit Kurzem ein Büro am deutschen Fettfleck hat, verteilte auch Flyer und Materialien vor den Werkstoren von Tönnies. Ein Großteil der Tönnies-Arbeiter stammt aus Rumänien, Bulgarien und Polen. Meist werden sie von Subunternehmern angestellt. Diese Subunternehmer ziehen ihnen Geld für Arbeitskleidung, Werkzeuge und Unterkunft vom Lohn ab, sodass von einer Beschäftigung auf Mindestlohnniveau kaum gesprochen werden kann – selbst wenn sie möglicherweise noch mehr verdienen als in ihren Herkunftsländern.
Schlechte Arbeitsbedingungen sind nur nach Skandalen ein Thema. Das müsse sich ändern, sagt Roland Matzdorf vom nordrhein-westfälischen Arbeitsministerium.
Armin Wiese von der NGG in Ostwestfalen berichtet darüber hinaus von Wohnungen, die nicht im besten Zustand seien und in denen auf 70 bis 80 Quadratmetern zehn Menschen leben müssen. Das Ganze für 200 Euro pro Kopf und Monat. Bei der Verteilaktion berichten Beschäftige von fehlenden Nachtzuschlägen und Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden am Tag. Die Firma pflegt solche Vorwürfe von sich zu weisen.
Für den stellvertretenden NGGVorsitzenden Claus-Harald Güster sind der Mindestlohn und eine Selbstverpflichtung der großen Fleischproduzenten, auch Arbeiter mit Werksverträgen nach deutschem Recht sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen, erste Schritte. Im Kern müsse man aber das »Krebsgeschwür« aus Werkverträgen und Subunternehmen endlich beenden, dies hebele Mitbestimmung aus und zementiere prekäre Beschäftigung. Als vorbildlich gilt bei der Gewerkschaft das Unternehmen Westfleisch; dort verfolge man das erklärte Ziel, zukünftig auf solche Beschäftigungsverhältnisse zu verzichten.
Schlechte Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie sind nicht nur ein deutsches Problem. Deshalb waren mit Jensen von der dänischen NNF, Pietro Ruffolo von der FLAI aus Italien und Stéphane Jamet von der französischen FGA-CFDT auch internationale Gewerkschaftsvertreter nach Rheda-Wiedenbrück gekommen. Diese waren sich einig, dass die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie überall in Europa schlecht seien. Doch werde die Entwicklung von den deutschen Unternehmen vorangetrieben.
Stéphane Jamet fasste die Forderungen in einer kurzen und prägnanten Rede am besten zusammen. Deutschland müsse Verantwortung übernehmen für eine Harmonisierung von Löhnen und Sozialabgaben in Europa, sonst sei das Land weiter für Arbeitslosigkeit und schlechte, krankheitsfördernde Arbeitsbedingungen im Ausland verantwortlich – das Erreichen fairer Arbeitsbedingungen in dieser Branche gleicht dem Zerlegen eines Mammuts.