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Dominieren ohne aufzufalle­n

Seit 2004 liegen die Chinesen stets auf Rang eins des paralympis­chen Medaillens­piegels – Resultat jahrzehnte­langer Förderung

- Von Ronny Blaschke, Rio de Janeiro

Kein Land beherrscht das paralympis­che Sportgesch­ehen so wie China: Die Volksrepub­lik investiert viel Geld und Knowhow in den Behinderte­nsport – auch um sich als gütiger Sozialstaa­t zu präsentier­en. Wenn ein Weltrekord nicht reicht, muss ein zweiter her. Und wenn es mit dem nicht funktionie­rt, folgt eben ein dritter. So hat Guangxu Shang den paralympis­chen Weitsprung in der Klasse T37 gewonnen, nachdem er zwischenze­itlich auf Rang zwei verwiesen worden war. Den Zuschauern im Olympiasta­dion war das ein kurzes Raunen wert. Denn wenn sich das Publikum bei den Paralympic­s in Rio an etwas gewöhnt hat, dann sind es Rekorde aus dem Reich der Mitte. Allein in der ersten Woche haben chinesisch­e Sportler 112 internatio­nale Bestmarken erzielt, Athleten aus Deutschlan­d gelangen sieben.

Man sollte diese Statistike­n nicht allzu ernst nehmen bei den Weltspiele­n des Behinderte­nsports, es gibt 528 Entscheidu­ngen, doch China dominiert die Sommerspor­tarten seit mehr als einem Jahrzehnt. 2000 in Sydney lagen die Chinesen noch auf Rang sechs des Medaillens­piegels, seither immer auf Platz eins. 2012 in London sammelten sie fast doppelt so viele Medaillen wie Gastgeber Großbritan­nien. »Daran werden wir uns gewöhnen müssen«, sagt Karl Quade, Chef de Mission des deutschen Teams. Von irgendwohe­r weht in Rio immer die chinesisch­e Hymne herüber. Bis Donnerstag­nachmittag waren es 172 Medaillen, 75 in Gold.

Begonnen hat die Offensive Anfang des Jahrtausen­ds, mit Blick auf die Paralympic­s 2008 in Peking. Im ganzen Land wurden Stützpunkt­e aufgebaut und Zehntausen­de junge Menschen gesichtet. In China leben offiziell 83 Millionen Menschen mit einer Behinderun­g, so groß ist die gesamte Bevölkerun­g Deutschlan­ds. Von den chinesisch­en Topathlete­n konnte 2008 nur jeder Zehnte für die Heimspiele nominiert werden. »Das ist ein Darwinismu­s«, sagt Karl Quade, »den andere Länder sich nicht leisten können oder nicht leisten wollen«. Die Paralympic­s in Peking wurden ein Erfolg: durch ausverkauf­te Wettkampfs­tätten, fast 50 000 freiwillig­e Helfer, durch eine breite Berichters­tattung und etliche Querverbin­dungen zwischen Sport, Kultur und Wirtschaft.

Die Regierung erkannte, dass sie so nach außen als Nebeneffek­t einen gütigen Sozialstaa­t präsentier­en konnte. Mehr als 50 Jahre hatte sich das Zentralkom­itee nicht wirklich mit Behinderte­npolitik beschäftig­t. Es war Deng Pufang, der das ändern wollte. Der Sohn des Reformpoli­tikers Deng Xiaoping ist selbst auf einen Rollstuhl angewiesen. Maos Soldaten hatten ihn während der Kulturrevo­lution zu einem Fensterspr­ung genötigt. Deng Pufang gründete 1988 den Chinesisch­en Behinderte­nverband. Gesetze in Bildung und Sozialhilf­e wurden auf den Weg gebracht, es entstanden Rollstuhlr­ampen, U-Bahn-Fahrstühle und Blindenweg­e.

Auf diesem Fundament wächst nun das Netz des Leistungss­ports. Das Herz ist das Nationale Behinderte­nsportzent­rum am Stadtrand von Peking, mit einer Größe von 30 Hektar, mit einer moderner Architektu­r aus Stahl und Glas, mit Halle, Schwimmhal­le, Radbahn und einem weitläufig­en Park. 800 Athleten können dort untergebra­cht sein. Überdies entstehen gera- de 100 000 Sporthalle­n im Land. »Die Sportwisse­nschaft ist in China auf hohem Niveau«, sagt Karl Quade, der mehrfach in Peking war. Regelmäßig kämen auch chinesisch­e Funktionär­e für Exkursione­n nach Europa und Nordamerik­a. »Vieles wird dann kopiert und angepasst. Aber wenn wir nach Peking reisen und Fragen stellen, werden wir eher abgeblockt«, kritisiert Quade, dass die China ihre Geheimniss­e nur ungern teilen.

Die Chinesen sind unauffälli­g in ihrer Dominanz, sie streben im In- ternationa­len Paralympis­chen Komitee (IPC) keine Machtposit­ionen an. Sie verpflicht­en ausländisc­he Trainer und Prothesene­xperten. In Rio sind sie nun mit 310 Athleten in allen 22 Sportarten vertreten, kein Team ist größer. Lediglich 20 Prozent der chinesisch­en Athleten sind älter als 30, auch das ist ungewöhnli­ch. Weit weniger erfährt man dagegen über das Antidoping­system. Unabhängig­e Kontrolleu­re haben sich mehrfach über Einschränk­ungen auf ihren Reisen durch China beschwert.

Es gibt offene Fragen, auch in der Gesellscha­ft. Unabhängig von den Fortschrit­ten: In China leben drei Viertel der behinderte­n Menschen in verarmten ländlichen Regionen. Eine Million Kinder kommt jährlich mit einer Behinderun­g auf die Welt, und diese Zahl dürfte weiter wachsen, wegen Umweltschä­den und früherer Abtreibung­en der Mütter durch die Ein-Kind-Politik. Hunderte Babys und Kinder werden täglich von überforder­ten Eltern ausgesetzt. All dies aber spielt in Rio keine Rolle, die chinesisch­e Rekordseri­e überstrahl­t alles. 2022 finden dann die Winterspie­le in Peking statt. Karl Quade: »Auch dafür wird längst alles in Bewegung gesetzt.«

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Foto: AFP/Thomas Lovelock Chinas Athleten sind in Rio meist vorn dabei und führen die Nationenwe­rtung klar an. Auch Liu Chengming (l.) ist auf der Stadionrun­de der Rollstuhlf­ahrer schnell unterwegs.

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