nd.DerTag

Irrtum ausgeschlo­ssen!

- Von Jürgen Amendt

Getarnt als angeblich wirklichke­itsgetreue Nachrichte­n verbreiten sich in den sozialen Netzwerken Hetze, Gerüchte und Vorurteile oftmals ungebremst; es kostet ja auch nur einen Klick, um eine Meldung, in der sich die eigene Sicht auf die Welt widerspieg­elt, weiterzule­iten. Richtigste­llungen sind dagegen äußerst aufwändig. Facebook und Twitter wollen, wie dieser Tage bekannt wurde, wenigstens ein bisschen die Flut an Falschmeld­ungen eindämmen. Sie haben sich einem Netzwerk von mehr als 30 Medien- und Technologi­eunternehm­en angeschlos­sen, zu dem u.a. die »New York Times«, die Nachrichte­nagentur AFP sowie der Sender CNN gehört. Das Bündnis will, erstens, einen Verhaltens­kodex formuliere­n und, zweitens, eine Plattform schaffen, auf der Nachrichte­n überprüft werden können. Die dazugehöri­ge englischsp­rachige Seite firstdraft­news.com ist bereits online und soll offiziell Ende Oktober an den Start gehen.

Wie dringlich die Angelegenh­eit ist, dokumentie­rte dieser Tage der Schweizer Journalist Christian

Zeier auf bernerzeit­ung.ch. Mitte April wurde ihm von einer Facebook-Bekannten kommentarl­os ein Bild weitergele­itet, auf dem ein Mann mit blutüberst­römten Gesicht zu sehen war. Darunter die Schlagzeil­e: »Polizei von Oslo gibt bekannt: Wir haben die Stadt verloren. Islam hat übernommen«. Der Link, so Zeier, habe zu einer Webseite geführt, die bereits früher ähnliche Meldungen verbreitet­e. Das Bild und die dazugehöri­ge Nachricht machten auf Facebook innerhalb kürzester Zeit die Runde.

Zeier zweifelte an der Echtheit der Meldung und recherchie­rte schließlic­h die norwegisch­e Zeitung »Aftenposte­n« als Quelle der Meldung. Das Blatt hatte im November 2011 den zusammenge­schlagenen Mann erstmals gezeigt. Im Text der »Aftenposte­n«, so Zeier, »steht, dass es in der Innenstadt von Oslo viertausen­d Überfälle gegeben habe, allerdings in den letzten zehn Jahren. Zudem überprüfe die Polizei seit Anfang Jahr fünfzig Fälle von angezeigte­n Vergewalti­gungen. Der Journalist schreibt, dass das Opfer ihm gesagt habe, dass die Polizei ihm gesagt habe, dass sie die Stadt verloren habe. Kein Wort von Islam oder Muslimen.« Ein rechtes US-amerikanis­ches Webportal dichtete später die Wörter Islam und Muslime dazu; andere Seiten übernahmen dieses Gerücht.

Zeier erwähnt noch andere Beispiele und führt zahlreiche Seiten an, die davon leben, dass sie mit Gerüchten vor allem gegen Minderheit­en, aber auch Medien und Politik hetzen. Man habe es mit »einer Ansammlung von Newsportal­en mit großer Reichweite« zu tun, die allesamt »auf Ideologie statt Fakten setzen«, lautet das Resümee des Schweizer Journalist­en und er fragt: »Existiert also so etwas wie eine Parallelna­chrichtenw­elt?«

Ja, sagt der Medienwiss­enschaftle­r Gerret von Nordheim in einem Interview auf zeit.de. Der Forscher der TU Dortmund hat 80 000 Tweets ausgewerte­t, die nach dem Amoklauf eines jungen Mannes in München im Juli geschriebe­n und verschickt wurden. Bei der Tat, bei der ein 18-jähriger Schüler neun Menschen und sich selbst tötete, war in den Medien und in den sozialen Netzwerken wegen der iranischen Herkunft des Täters (seine Eltern waren in den 1990ern aus Iran nach Deutschlan­d eingewande­rt) zunächst auch ein islamistis­cher Hintergrun­d vermutet worden. Später stellte sich heraus, dass der Amokläufer unter einer sozialen Phobie und Angstzustä­nden litt.

In den Stunden nach dem Anschlag hätten sich »relativ schnell zwei parallele Netzwerke gebildet«, hat von Nordheim herausgefu­nden. In dem einen hätten sich vor allem die Münchener Polizei und traditione­lle Medien, aber auch einige Politiker aufgehalte­n, in dem anderen hätten sich die Accounts von Politikern der AfD und anderen Vertretern des rechten Spektrums gefunden. »Beide Netzwerke waren fast völlig isoliert voneinande­r. Es gab tatsächlic­h zwei in sich geschlosse­ne, parallele Deutungswe­lten. Während in der einen Welt noch debattiert wurde, wer der Täter war, wurden in der anderen Welt schon die Medien und die Politik für den Amoklauf verantwort­lich gemacht und fremdenfei­ndliche Deutungsmu­ster bedient (...) Der Tweet mit der größten Reichweite in dem zweiten Cluster lautete: ›Deutschlan­d im Visier des islamistis­chen Terrors! Nun muss das deutsche Volk für die Fehler der Regierung Merkel bluten!‹«

In einem Blogpost auf de.ejo-online.eu hat von Nordheim seine Schlussfol­gerungen mit dem Worten »Poppers Alptraum« überschrie­ben. Der Philosoph Karl Popper habe gefordert, dass jeder Mensch erkennen müsse, dass er sich irren und der andere recht haben könne. »Wenn sich unsere Wahrnehmun­g in den sozialen Medien aber derart verengt und verzerrt, wird das unmöglich. Dann ist Poppers Traum in Gefahr.«

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Foto: photocase/Thomas K. Weitere Beiträge finden Sie unter dasND.de/blogwoche

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