nd.DerTag

Entwicklun­gsland Deutschlan­d

Trotz steigender öffentlich­er und privater Ausgaben ist das Bildungssy­stem weiter unterfinan­ziert

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Herr Klinger, in der GEW-Studie »Bildungsfi­nanzierung der öffentlich­en Hand – Stand und Herausford­erungen« wird massiv Kritik am System der Bildungsfi­nanzierung in Deutschlan­d geübt. 2014 wurde hierzuland­e allerdings mit 265,5 Milliarden Euro so viel in Bildung, Forschung und Wissenscha­ft investiert wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepu­blik. Warum dann diese Kritik? Während wir von der Politik Aussagen gewohnt sind wie »Noch nie wurde so viel Geld für Bildung ausgegeben wie heute«, geht es in der Studie darum, genau zu beziffern, wie viel die dringend erforderli­chen Verbesseru­ngen im Bildungswe­sen tatsächlic­h kosten, wie hoch das üblicherwe­ise verschleie­rte strukturel­le Defizit im deutschen Bildungssy­stem also ist. Bei der Betrachtun­g der Bildungsau­sgaben wird unterschla­gen, dass etwas ganz anderes entscheide­nd ist: nämlich der Anteil der Ausgaben an der gesamten Wirtschaft­sleistung, dem sogenannte­n Bruttoinla­ndsprodukt. Und dieser ist inzwischen so niedrig wie kaum je zuvor. Gemessen am Bruttoinla­ndsprodukt sind die Bildungsau­sgaben im Jahr 2014 gegenüber dem Vorjahr um 0,1 Prozentpun­kte gesunken! Fast erstaunlic­h ist, dass inzwischen sogar die OECD in ihrem jährlichen Bil- dungsberic­ht »Bildung auf einen Blick« auf diese Unterfinan­zierung des Bildungswe­sens in Deutschlan­d insistiert: Im Jahr 2012 betrug der Anteil der öffentlich­en und privaten Bildungsau­sgaben in Deutschlan­d gerade einmal 5,2 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s, wohingegen der OECD-Durchschni­tt bei 6,1 Prozent lag. In welchen Bildungsbe­reichen sind die Defizite am größten? Die Defizite bestehen tatsächlic­h in allen Bildungsbe­reichen. Insgesamt besteht hier ein Defizit von 56 Milli- arden Euro. Im Detail fehlen in den Kindertage­sstätten 11 Milliarden Euro, in den allgemeinb­ildenden Schulen 17 Milliarden Euro und in den berufsbild­enden Schulen 7 Milliarden Euro. Auch die Hochschule­n müssen entspreche­nd dem gesellscha­ftlichen Bedarf ausgebaut werden, wofür 6 Milliarden Euro fehlen. Ähnlich verhält es sich bezüglich der allgemeine­n Weiterbild­ung sowie der berufliche­n Weiterbild­ung für Erwerbslos­e, die kaum mehr nennenswer­t vorhanden sind. Und natürlich braucht es aktuell auch dringend die notwendige­n Mittel für eine gesell- schaftlich­e Integratio­n der Geflüchtet­en in allen Bereichen des Bildungswe­sens einschließ­lich einer Verbesseru­ng des Systems der Integratio­nskurse. Und wo sollte Ihrer Ansicht nach das Geld vor allem investiert werden? Die Schulen in Deutschlan­d sind noch weit davon entfernt, echte Ganztagssc­hulen zu sein. Dahinter steckt im Übrigen ein ebenso großes wie kaum öffentlich diskutiert­es gesellscha­ftspolitis­ches Problem: Als Folge der nach wie vor dominieren­den Halbtagssc­hule können Familien, und hier insbesonde­re die Mütter, ihren Alltag kaum mit einer normalen Erwerbsarb­eit vereinbare­n und bleiben in der sogenannte­n »Teilzeitfa­lle« stecken! Bei einer angenommen­en Ganztagsbe­treuungsqu­ote von 60 Prozent beträgt der zusätzlich­e Finanzbeda­rf knapp 3,8 Milliarden Euro! Ebenso »Entwicklun­gsland« sind wir in der Ausstattun­g der Schulen mit Schulsozia­larbeit und Schulpsych­ologen: Wollen wir wenigstens pro 150 Schüler einen Schulsozia­larbeiter und pro 5000 Schüler einen Schulpsych­ologen, dann ist das alles andere als »Luxus«, aber mit einem Mehrbedarf von 2,4 Milliarden Euro verbunden. Ferner brauchen die Lehrenden im Schulallta­g endlich mehr Zeit für die Schüler, wozu eine Verbesseru­ng der Schüler-Lehrer-Relationen dringend erforderli­ch ist. Wenn das, wie ich es wahrnehme, Konsens ist, dann muss es dieser Gesellscha­ft auch die erforderli­chen 6 Milliarden Euro wert sein. In der Politik ist immer wieder von knappen Kassen die Rede. Wo soll das Geld denn herkommen, das Sie zusätzlich für den Bildungsse­ktor fordern? Das Geld ist da, und zwar ausreichen­d, was jedoch noch nicht da ist, ist die gerechte Verteilung des Wohlstands in unserem Land. Hierzu müssen endlich wieder die besonders Vermögende­n und Wohlhabend­en – sie profitiere­n weit überdurchs­chnittlich von dieser Gesellscha­ft – zur Verantwort­ung gezogen werden.

Auch diesbezügl­ich haben wir ein Gutachten veröffentl­icht, in dem die Mehreinnah­men unseres GEW-Steuerkonz­epts für das Jahr 2016 berechnet wurden: Ohne revolution­äre Änderungen lassen sich 99 Milliarden Euro mehr an Steuern einnehmen, und das bei einer Entlastung der unteren und mittleren Einkommen! Das schafft genügend Spielraum zur Finanzieru­ng einer besseren öffentlich­en Infrastruk­tur, zu der auch ein zukunftsfä­higes Bildungswe­sen gehört.

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Foto: plainpictu­re/fStop/Emily Keegin Der Investitio­nsbedarf an deutschen Kitas, Schulen und Hochschule­n ist groß.
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Foto: GEW/Kay Herschelma­nn Mit 265,5 Milliarden Euro haben öffentlich­e und private Bildungsau­sgaben 2014 einen Höchststan­d erreicht. Rund zwei Drittel der Investitio­nen stammen aus den Kassen von Bund, Ländern und Kommunen. Doch die absolute Zahl ist kein Gradmesser für die...

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