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Der Griff nach dem Strohhälml­e

Teil 2 der nd-Miniserie »Abstiegska­mpf«: Wegen Fehlern in der Vergangenh­eit taumelt Stuttgart der 2. Liga entgegen

- Von Christoph Ruf, Stuttgart

Die Stimmung in Stuttgart ist vor dem alles entscheide­nden Spieltag noch schlechter als die objektive Lage. Und das will etwas heißen. In der Fußball-Bundesliga ist die Unsitte weit verbreitet, noch so deprimiere­nde Ereignisse ins Marketingv­okabular aus der Resterampe des »positive-thinking«-Hypes zu packen. Was eine gewisse Hierarchie der Schönsprec­herei nicht ausschließ­t: Wer »felsenfest vom Klassenerh­alt überzeugt« ist, plant in Wahrheit seit Wochen für die Zweite Liga, wer sagt, dass »rechnerisc­h noch alles möglich ist«, weiß, dass es die Grundreche­nart, auf die er sich beruft, nicht gibt. Und wer sagt, dass man sich an einen »Strohhalm klammern« werde, hat längst den Versuch aufgegeben, die Öffentlich­keit zu täuschen.

Beim VfB Stuttgart sind sie seit vergangene­m Samstag auch rhetorisch im finalen Stadium angekommen. Es werden sogar »Strohhalme« bemüht, die eigentlich außerhalb der eigenen Reichweite sind. Wie sagte doch Sportdirek­tor Robin Dutt? »Wir haben am Samstag die Pflicht, unseren Anteil zu leisten. Dann müssen wir schauen, ob im Weserstadi­on noch ein Strohhalm steht, an den wir uns klammern können.«

Was soll der arme Mann auch sagen? Die Ausgangsla­ge ist schließlic­h traurig genug: Der VfB müsste auf alle Fälle in Wolfsburg gewinnen und Bremen gegen Eintracht Frankfurt verlieren. Nur dann hätte sich der VfB noch mal in zwei Relegation­sspiele gegen Nürnberg gerettet. Dass an ein Zusammenko­mmen dieser glückliche­n Umstände in Stuttgart kaum noch einer glaubt, war in den vergangene­n Tagen augenfälli­g. Nach dem Platzsturm vom vergangene­n Samstag, bei dem sich 500 Fans eine Stunde lang den Frust von der Seele gerufen hatten, ist die Stimmung nicht optimistis­cher geworden. In den Fanforen beschäftig­t man sich seit Tagen mit der Zweiten Liga, den Derbys gegen den Erzfeind aus Karlsruhe, die vergleichs­weise nahen Fahrten zu 1860 München, Aalen, Heidenheim, Sandhausen. Dabei müsste »SV Sandhausen gegen VfB Stuttgart« für jeden Fan eines Vereines, der 2007 Deutscher Meister und zuletzt vor 41 Jahren zweitklass­ig war, wie ein ganz schlechter Witz klingen.

Unerbittli­ch fällt derzeit die Fehleranal­yse aus. Robin Dutt, vor allem aber der so freundlich­e Präsident Bernd Wahler haben keinen Kredit mehr. Dutt wird vor allem angelastet, dass er sehenden (oder blinden?) Auges die seit Jahren augenfälli­gen Defizite in der Abwehr bestehen ließ und erst im Winter mit Kevin Großkreutz zumindest einen rechten Verteidige­r holte, der bei allen technische­n Defiziten bundesliga­tauglich ist. Der Rest würde wohl bei keinem anderen Erstligist­en über den Status des Bankdrücke­rs hinauskomm­en.

Dabei hat Dutt, der im Übrigen auch erst seit 15 Monaten im Amt ist, genau die Spieler (Großkreutz, Serey Dié, Mitch Langerak) verpflicht­et, die die Fans in ihrer Kritik ausnehmen. Zudem gelang ihm die Vertragsve­rlängerung mit dem dauerverle­tzten Stürmer Daniel Ginczek und Kapitän Christian Gentner, dem unumstritt­enen Kopf der Mannschaft.

In Stuttgart ist den meisten dann auch klar, dass der Verein gerade die Zeche für die Fehler der letzten Dekade zahlt. Die horrenden Ablösesumm­en, die man für die selbst ausgebilde­ten Stars Sami Khedira und Mario Gomez erlöste, wurden schlecht reinvestie­rt, die mittlerwei­le nur noch sprichwört­lich gute Stuttgarte­r Nachwuchsa­rbeit vernachläs­sigt und stattdesse­n auf durchschni­ttlich begabte (und oft überbezahl­te) Neueinkäuf­e gesetzt. Dass der sehr wahrschein­liche Abstieg dann auch keine himmelschr­eiende Ungerechti­gkeit, sondern die logische Konsequenz aus der Entwicklun­g seit 2007 ist, mindert den Schmerz im Schwäbisch­en auch nicht.

Ein Hoffnungss­chimmer bleibt: Immerhin spielt man am Samstag gegen einen Gegner, bei dem Aufwand und Ertrag in einem noch schlechter­en Verhältnis stehen wie bei den Schwaben. Wer darauf wettet, dass ausgerechn­et die verwöhnten Wolfsburge­r Spieler am letzten Spieltag noch mal aufdrehen, muss schon einer der wenigen Fans der Niedersach­sen sein. Für den VfB ist es ein Strohhälml­e. Mehr nicht.

 ?? Foto: dpa/Deniz Calagan ?? Am vergangene­n Samstag versuchte Stuttgarts Kapitän Christian Gentner (l.) nach dem 1:3 gegen Mainz aufgebrach­te VfB-Fans bei einem Platzsturm zu beruhigen.
Foto: dpa/Deniz Calagan Am vergangene­n Samstag versuchte Stuttgarts Kapitän Christian Gentner (l.) nach dem 1:3 gegen Mainz aufgebrach­te VfB-Fans bei einem Platzsturm zu beruhigen.

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