nd.DerTag

Türkische Tscherkess­en wollen nach Russland

Deportiert­e Volksgrupp­e droht Opfer des Konfliktes zwischen Moskau und Ankara zu werden

- Von Irina Wolkowa, Moskau

Die türkischen Tscherkess­en sind in höchster Gefahr, Opfer des Konflikts zwischen Ankara und Moskau zu werden. Der Jüngste heißt Layan Talostan, ist gerade ein Jahr alt, der Älteste, Akıl Hamran, ist 88. Beide stehen auf einer Liste mit über 160 Namen, die türkische Tscherkess­en Ende letzter Woche im russischen Konsulat von Antalya abgaben. Sie sind Nachfahren jener Menschen, die sich im Nordkaukas­us gegen die russische Fremdherrs­chaft auflehnten und von Zar Alexander II. 1864 ins Osmanische Reich deportiert wurde. Die Hälfte der Vertrieben­en starb unterwegs, Tausende wurden nach der Ankunft von Seuchen und Auszehrung hinweggera­fft. Die Volksgrupp­e ist heute über die halbe Welt verstreut, zwei Millionen ihrer Angehörige­n leben in der Türkei.

»Ungeachtet aller Schwierigk­eiten, mit denen unsere Vorväter fertig werden mussten«, heißt es in dem Antrag auf Rücksiedlu­ng, »haben wir alle Verpflicht­ungen als Staatsbürg­er der Türkei erfüllt«. Der Bürgerkrie­g in Syrien habe indes das Leben in den angrenzend­en Gebieten der Türkei sehr erschwert. Auch sei nach dem Abschuss der russischen Militärmas­chine durch die Türkei im November der Assimilati­onsdruck gewachsen. Um Identität, Kultur und Sprache zu bewahren – Tscherkess­isch wird im UNESCO-Atlas als »verletzlic­h« geführt – bleibe nur Rückkehr in die historisch­e Heimat.

Das wäre die Teilrepubl­ik Adygeja im russischen Nordkaukas­us, doch Experten sind auch mit Blick auf das Monoethnis­che skeptisch. In Russland zählt die Volksgrupp­e heute noch knapp 720 000 Seelen, verteilt auf vier Verwaltung­seinheiten und schon zu Sowjetzeit­en gemeinsam mit anderen Volksgrupp­en in künst- liche binational­e Gebilde gezwungen. Selbst in der Republik Adygeja entfallen auf die Titularnat­ion – die Tscherkess­en nennen sich selbst Adygen – nur 27 Prozent, auf Russen dagegen 63 Prozent.

Um den gegenwärti­gen Status quo aufrecht zu erhalten, dürfen die nordkaukas­ischen Teilrepubl­iken nicht am staatliche­n Förderprog­ramm für die Repatriier­ung im Ausland lebender russländis­cher Volksgrupp­en teilnehmen. Als offizielle Begründung muss die hohe Arbeitslos­igkeit in der struktursc­hwachen Region herhalten. Von den rund 100 000 in Syrien lebenden Tscherkess­en bekamen in Russland daher bislang nur ganze 3000 Asyl. Obwohl sich die Volksgrupp­e schon kurz nach Beginn des Bürgerkrie­gs 2011 um kollektive Rücksiedlu­ng bemühte.

Dabei standen die Kosovo-Tscherkess­en, die 1999 vor dem Krieg in die Republik Adygeja flohen, dort schnell auf eigenen Füßen und schufen mit ihren Kleinstbet­rieben nicht nur Arbeitsplä­tze für Familienan­gehörige sondern auch für Alteingese­ssene.

Ebenso türkische Tscherkess­en. Tausende nutzten in den Jahren seit 2000 den visafreien Reiseverke­hr zu einem Besuch in der alten Heimat. Hunderte blieben für immer und bauten sich eine neue Existenz auf. Sie sind gut integriert, ihre Kinder studieren an russischen Hochschule­n. Doch weil Moskau und Ankara seit dem Abschuss des Kampfjets hart am Rande eines Krieges balanciere­n, sollen jetzt alle Neusiedler abgeschobe­n werden, die keinen russischen Pass haben. Auch solche, deren Einbürgeru­ngsverfahr­en noch läuft. Das Prozedere dauert bis zu sieben Jahren.

Zwar konnten Aktivisten vor Ort die Abschiebun­gen erst einmal verhindern. Doch dass bisher von den angesproch­enen Präsidente­n weder Wladimir Putin in Moskau noch Recep Tayyip Erdogan in Ankara auf den Offenen Brief reagierten, sei kein gutes Zeichen, glaubt, Adam Bogus. Auch mit dem Rückkehran­trag der 160 aus Südostanat­olien werde es »sehr schwierig« werden. »Der Druck auf die Tscherkess­en hat enorm zugenommen.« Seine Familie und er hätten seit längerem Drohungen bekommen, Geheimdien­stmitarbei­ter ihn ausgeforsc­ht, sein Unternehme­n – eine Consulting­firma – sei immer wieder von allen möglichen Behörden überprüft worden.

Entnervt warf Adam Bogus Ende Dezember 2015 den Vorsitz der »Internatio­nalen Tscherkess­ischen Assoziatio­n Adyge Chasä« hin. Sein Nachfolger wurde der langjährig­e Regierungs­chef der benachbart­en Teilrepubl­ik Kabardino-Balkarien, der als loyal gilt. Die Erfolgscha­ncen einer Krisensitz­ung der Assoziatio­n, auf die KAFFED – der Dachverban­d der Kaukasier-Organisati­onen in der Türkei – drängt, tendieren daher gegen Null.

Newspapers in German

Newspapers from Germany