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Weniger Wachstum – mehr Leben

Der »Atlas der Globalisie­rung« macht sich auf die Suche nach konkreten Utopien

- Von Alexander Isele

»Le Monde diplomatiq­ue« und das Jenaer Kolleg Postwachst­umsgesells­chaften haben gemeinsam einen Postwachst­umsatlas herausgebr­acht. Ohne Wachstum gibt es angeblich keinen Wohlstand, keine Freiheit, keinen Erfolg – so die gängige Erzählung der westlichen Gesellscha­ftsform. Wesentlich­e Einrichtun­gen unserer Gesellscha­ft, wie etwa der Wohlfahrts­staat, sind so konstruier­t, dass sie nur mit einer wachsenden Wirtschaft funktionie­ren. Staatliche Umverteilu­ng und Sozialpoli­tik hängen am Tropf des Wachstums.

Auf einem begrenzten Planeten kann es aber kein unbegrenzt­es Wachstum geben – so das Credo der Postwachst­umsbewegun­g. Angesichts von zur Neige gehenden fossilen Brennstoff­en, Umweltzers­törung und steigender Ungleichhe­it lautet die Frage nicht ob, sondern nur wie der Abschied vom Wachstum erfolgt: ge- plant oder erzwungen? Das Kolleg Postwachst­umsgesells­chaften an der Friedrich-Schiller- Universitä­t in Jena versucht nicht nur, Gesellscha­ftsformen ohne Wachstum zu denken, sondern auch Wege dorthin aufzuzeige­n. Zusammen mit der Berliner Redaktion von »Le Monde diplomatiq­ue« wurde der »Atlas der Globalisie­rung: Weniger wird mehr« herausgege­ben.

Eingebette­t in viele grafisch aufbereite­te Statistike­n und Karten führt der Atlas ein in das Konzept Wachstum, den daraus resultiere­nden Krisen und Konflikten, den Versuchen eines Grünen Wachtsums und zuletzt in die Möglichkei­t von Postwachst­umsgesells­chaften.

Der Politologe Ulrich Brand beschreibt in seinem Beitrag »Die Illusion vom sauberen Wachstum« den Plan eines Green New Deals als »allenfalls liberales Modernisie­rungsproje­kt«, das weder die soziale Ungleichhe­it noch die zerstöreri­schen Seiten des Kapitalism­us hinterfrag­t und die herrschend­en Eliten nicht erschrecke­n soll. Nicht verwunderl­ich ist es, dass mit dem Beginn der Finanzkris­e von 2007 wieder vom Green New Deal gesprochen wird, nachdem die Idee 20 Jahre in den Schubladen von Grünen und sozialdemo­kratischen Strategen verschwund­en war.

Mittlerwei­le haben die Forderunge­n alle dezidiert wachstumsk­ritischen Elemente verloren, die »Grüne Industriel­le Revolution« setzt auf die Innovation­skraft kapitalist­ischer Unternehme­n und deren Technologi­en. Was bleibt, sind zentralisi­erte Profite und Konkurrenz, ohne Alternativ­en zu einer Moderne, die auf Naturausbe­utung basiert und in der Verteilung­sfragen nur selektiv vorkommen.

Das Schrumpfen kein Selbstzwec­k sein kann zeigen mehrere Beitrage, wie beispielsw­eise »Verdichtet­e Zeit« von dem Soziologen Hartmut Rosa. Wie dicht die Begriffe Wachstum und Beschleuni­gung miteinande­r verknüpft sind, erklärt Rosa, indem er Beschleuni­gung als Mengenwach­stum pro Zeiteinhei­t betrachtet: In einem bestimmten Zeitraum wird mehr produziert, konsumiert oder distribuie­rt. Eine Gesellscha­ft, die wächst, verschärft das Zeitproble­m, bis die Zeit zum »knappsten aller Rohstoffe« geworden ist.

Entschleun­igung ist aber kein Selbstzwec­k, langsamere Internetod­er Reiseverbi­ndungen sind keine attraktive­n Alternativ­en. Das Problem ist somit nicht die Beschleuni­gung an sich, so Rosa. Sie wird da kritikwürd­ig, »wo sie das Leben schlechter macht, weil sie beispielsw­eise zu Entfremdun­g führt, weil die Subjekte sich die Welt nicht mehr anverwande­ln können.« Beschleuni­gung ist kein technische­s oder gar Luxusprobl­em – »letztlich kommt man um eine politi- sche Diskussion und Neubestimm­ung von Lebensqual­ität nicht herum.«

Genau hier setzt die Postwachst­umsbewegun­g an: Es geht ihr darum, konkrete Utopien als Alternativ­en zum Wachstumsd­iktat zu entwerfen und diese mit widerständ­igen Praktiken zu verbinden. Einfach und pauschal eine Schrumpfun­g des Bruttoinla­ndsprodukt­s zu fordern, würde ökonomisch­e Krisen auslösen – beim Postwachst­um geht es deshalb um mehr: um eine grundsätzl­iche Umgestaltu­ng der Gesellscha­ft. Um einen selbstbest­immten Verzicht auf Wachstum möglich zu machen, ist ein Umbau von Wirtschaft und Gesellscha­ft gefragt, die Abkopplung von Wohlfahrt und sozialen Fortschrit­t von den Zwängen der Kapitalakk­umulation notwendig. Wie dringend dies ist, zeigt der Atlas. Ideen, wie der Umbau gelingen kann, liefert er gleich mit.

Die Frage lautet nicht ob, sondern wie der Abschied vom Wachstum erfolgt: geplant oder erzwungen?

Atlas der Globalisie­rung: Der Postwachst­umsatlas. Weniger ist mehr, Le Monde diplomatiq­ue/taz, Berlin 2015, 175 Seiten, 16 Euro.

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