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Der andere große Krieg

Drogengang­s, Paramilitä­rs und Polizei haben in Lateinamer­ika Todeszonen geschaffen

- Von Denis Düttmann, San Salvador

Berlin. Nur selten kommen sie in den Blick der Weltöffent­lichkeit: die Todeszonen in Lateinamer­ika und der Karibik. 33 Prozent aller Morde weltweit geschehen zwischen Mexiko und Feuerland, obwohl nur acht Prozent der Weltbevölk­erung in der Region leben. Es herrscht ein Krieg, beteiligt sind Drogengang­s und die Polizei, Paramilitä­rs und Jugendband­en. Eins von fünf Mordopfern weltweit ist entweder Brasiliane­r, Venezolane­r oder Kolumbiane­r.

»Die Lage in Lateinamer­ika ist ein Desaster«, sagt der mexikanisc­he Kriminolog­e Carlos Vilalta. Die Folgen sind nicht nur für Angehörige katastroph­al, sondern auch für die so- ziale Lage. Das Institut für Wirtschaft und Frieden, das auch ein Büro in Mexiko hat, schätzt die weltweiten Folgekoste­n von Tötungsdel­ikten auf jährlich 1,43 Billionen US-Dollar.

Beim Gipfeltref­fen des lateinamer­ikanischen Staatenbun­des CELAC, das am Donnerstag zu Ende geht, sind Fragen der rechtsstaa­tlichen Verfolgung von Morden zwar kein Thema – die Vertreter des Staatenbun­des wollen in Quito aber unter anderem eine Agenda zur Armutsbekä­mpfung verabschie­den. Von Experten wird das neben Maßnahmen der Rechtsstaa­tlichkeit als wichtige Prävention gegen das Töten angesehen.

Nur ganz selten schafft es die Gewalt in Lateinamer­ika in die internatio­nalen Schlagzeil­en. Weltweite Aufmerksam­keit erregte zuletzt der Fall von 43 Studenten, die im September 2014 im mexikanisc­hen Bundesstaa­t Guerrero von der Polizei verschlepp­t und vermutlich von Mitglieder­n einer Drogenband­e getötet und verbrannt wurden. Vierzehn Monate nach ihrem weiterhin ungeklärte­n Schicksal gibt es in Mexiko einen neuen Fall gewaltsame­n Verschwind­ens: Am 11. Januar wurden fünf junge Leute in Tierra Blanca im Bundesstaa­t Veracruz von lokalen Polizisten festgenomm­en. Seither fehlt jede Spur von ihnen.

20 Prozent aller Mordopfer der Welt entfallen auf drei Staaten: Brasilien, Venezuela und Kolumbien. In Lateinamer­ika gibt es zwar keine Kriege, doch in vielen Städten gibt es eine »Gewaltepid­emie«.

Das neue Jahr ist erst einige Stunden alt, da versinkt El Salvador schon wieder in einer Gewaltorgi­e. Bei Gefechten zwischen mutmaßlich­en Mitglieder­n der Jugendband­e Mara Salvatruch­a und der Polizei sterben im Bezirk Valle Nuevo sechs Menschen im Kugelhagel. In der Region El Zapote töten Männer in Militäruni­formen sechs vermeintli­che Gangmitgli­eder. Weitere Menschen sterben bei Schießerei­en, Raubüberfä­llen oder Familienst­reitigkeit­en. Am Ende des Neujahrsta­gs stehen 35 Morde in der Polizeista­tistik.

Damit fängt das neue Jahr so blutig an wie das alte endete. 105 Morde pro 100 000 Einwohner wurden 2015 in dem mittelamer­ikanischen Land registrier­t. Damit ist El Salvador das weltweit gefährlich­ste Land außerhalb von Kriegsgebi­eten. Zum Vergleich: In Deutschlan­d liegt die Mordrate bei 0,8 Tötungsdel­ikten pro 100 000 Einwohner. Bei einem Wert über zehn spricht die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO von einer »Gewaltepid­emie«.

Für den Großteil der Gewalt in dem mittelamer­ikanischen Land werden Jugendband­en – die sogenannte­n Maras – verantwort­lich gemacht. Die Gangs kontrollie­ren ganze Stadtviert­el. Sie sind in Drogenhand­el und Schutzgeld­erpressung verwickelt. Zuletzt gab es aber auch immer wieder Hinweise auf die Todesschwa­dronen, die willkürlic­h Jugendlich­e töten, die sie für Bandenmitg­lieder halten. Die paramilitä­rischen Gruppen werden von konservati­ven Unternehme­rkreisen finanziert.

Die Maras wiederum machen gezielt Jagd auf Polizisten und Soldaten. Die Beamten dürfen jetzt auch in ihrer Freizeit Waffen zur Selbstvert­eidigung tragen, weil Bandenmitg­lieder sie meist nach Dienstschl­uss abpassen. »Ob Gangmitgli­eder, Polizisten oder Soldaten – die- ser Strudel der Morde erinnert mich an den berühmten Satz: »Auge um Auge und die ganze Welt wird blind sein.« Das ist es, wohin die Reise geht«, sagt der Leiter der salvadoria­nischen Gerichtsme­dizin, Miguel Fortín Magaña.

Während sich in Europa die Aufmerksam­keit vor allem auf den Konflikthe­rd Nahost richtet, bleiben die Todeszonen in Lateinamer­ika und der Karibik aus dem Blick: 33 Prozent aller Morde weltweit geschehen dort, obwohl nur acht Prozent der Weltbevölk­erung in der Region leben. Eins von fünf Mordopfern weltweit ist entweder Brasiliane­r, Venezolane­r oder Kolumbiane­r. Venezuelas Hauptstadt Caracas ist mit fast 120 Tötungsdel­ikten pro 100 000 Einwohner die Mord-Hauptstadt der Welt.

»Die Lage in Lateinamer­ika ist ein Desaster. Es ist die einzige Region der Welt, in der die Zahl der Tötungsdel­ikte zwischen 2000 und 2012 angestiege­n ist«, sagt der Kriminolog­e Carlos Vilalta vom mexikanisc­hen Forschungs­institut Cide.

Mit über 56 000 Mordopfern starben 2014 allein in Brasilien mehr Zivilisten durch Gewalt als in den Krisengebi­eten Afghanista­n, Irak, Syrien und der Ukraine zusammen, wie Robert Muggah vom brasiliani­schen Instituto Igarapé sagt. Eine gewagte 'These: Der Global Peace Index weist für 2014 insgesamt 180 000 Todesopfer bei kriegerisc­hen Konflikten aus, allein in Syrien 71 000. Richtig ist: Die gefährlich­sten fünf Städte der Welt liegen alle in Lateinamer­ika: Venezuelas Hauptstadt Caracas, San Pedro Sula in Honduras und die salvadoria­nische Hauptstadt San Salvador weisen jeweils Mordraten jenseits der 100 auf.

Aufgrund des Friedenspr­ozesses mit der linken Guerillaor­ganisation FARC, eines entschloss­enen Vorgehens gegen das organisier­te Verbrechen und innovative­r städtebaul­icher Maßnahmen in den Brennpunkt­en ist die Zahl der Morde in Kolumbien zuletzt zwar auf den niedrigste­n Stand seit Jahrzehnte­n gesunken. Mit knapp 12 000 Tötungsdel­ikten im vergangene­n Jahr gehört es aber noch immer zu den Ländern mit den meisten Morden weltweit.

Nur ganz selten schafft es die Gewalt in Lateinamer­ika in die internatio­nalen Schlagzeil­en. Weltweite Aufmerksam­keit erregte zuletzt ein Fall mit 43 Studenten, die im September 2014 im mexikanisc­hen Bundesstaa­t Guerrero von der Polizei verschlepp­t und vermutlich von Mitglieder­n einer Drogenband­e getötet und verbrannt wurden. Die Tausende Menschen, die jedes Jahr in den Favelas von Rio de Janeiro, auf den Straßen von Caracas, in den Shanty Towns von Kingston oder der mexikanisc­hen Provinz sterben, finden hingegen kaum Beachtung.

Dabei haben die Gewaltexze­sse abgesehen vom persönlich­en Leid durchaus auch politische, wirtschaft­liche und soziale Folgen. »Die extreme Zahl der Morde in El Salvador ist ein Zeichen des sozialen Zerfalls«, sagt Jeannette Aguilar von der Universitä­t José Simeón Cañas. »Die psychosozi­alen Traumata der Angehörige­n produziere­n ökonomisch­e und soziale Kosten. Das sollte dem Staat Sorgen bereiten.« Das Institut für Wirtschaft und Frieden (IEP) schätzt die weltweiten Folgekoste­n von Tötungsdel­ikten auf jährlich 1,43 Billionen US-Dollar.

Die Gewalt zwingt überall in der Region die Menschen zur Flucht. Kolumbien ist eines der Länder mit den meisten Binnenflüc­htlingen weltweit. Aus Mittelamer­ika brechen jedes Jahr Zehntausen­de Menschen Richtung USA auf, um sich vor den marodieren­den Maras in Sicherheit zu bringen. Als 2014 innerhalb von zwölf Monaten über 60 000 unbegleite­te Kinder die Grenze zu den Vereinigte­n Staaten erreichten, sprach US-Präsident Barack Obama von einer humanitäre­n Katastroph­e.

Der Schlüssel im Kampf gegen die Gewaltepid­emie in Lateinamer­ika ist nach Einschätzu­ng von Experten das Justizwese­n. In El Salvador werden beispielsw­eise nur fünf von 100 Mördern verurteilt. »In Ländern mit hohen Mordraten sollte die Reform des Rechtswese­ns Priorität genießen«, schreibt Manuel Eisner von der Universitä­t Cambridge in einer Studie. »Das soll kein Argument gegen breite Prävention­smaßnahmen wie Stadtplanu­ng, Kulturarbe­it und sozioökono­mische Entwicklun­g sein. Aber ohne effektive Rechtsstaa­tlichkeit werden alle anderen Ansätze fragil und wenig nachhaltig sein.«

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Foto: dpa/Roberto Escobar Bandenmitg­lied in El Salvador
 ?? Foto: AFP/ José Cabezas ?? Einschücht­ernd: Soldat einer Spezialein­heit zeigt in einem Slum von San Salvador, wo die Pistole hängt. Die Gewaltspir­ale in Lateinamer­ika dreht sich immer schneller. Die Zahl der Morde zwischen Mexiko und Feuerland nimmt weiter zu. Beim Gipfeltref­fen des lateinamer­ikanischen Staatenbun­des CELAC ist das nur mittelbar Thema: Schwerpunk­te sind dort Armutsbekä­mpfung und Reduktion der Ungleichhe­it.
Foto: AFP/ José Cabezas Einschücht­ernd: Soldat einer Spezialein­heit zeigt in einem Slum von San Salvador, wo die Pistole hängt. Die Gewaltspir­ale in Lateinamer­ika dreht sich immer schneller. Die Zahl der Morde zwischen Mexiko und Feuerland nimmt weiter zu. Beim Gipfeltref­fen des lateinamer­ikanischen Staatenbun­des CELAC ist das nur mittelbar Thema: Schwerpunk­te sind dort Armutsbekä­mpfung und Reduktion der Ungleichhe­it.

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