nd.DerTag

»Der Erkenntnis­trieb ist ein Todestrieb, und Kunst ist der Versuch, den Erkenntnis­trieb zu betäuben, gegen ihn Widerständ­e aufzubauen.«

-

Bühnenbild­zauberer Horst Sagert ist aufgeregt, ganz aufgeregt. Er sieht Anfang der achtziger Jahre Heiner Müllers »Macbeth« an der Volksbühne. Er versteht nicht, was mit der Aufführung gemeint ist. Nichts versteht er. Es ist Pause, er könnte eigentlich kopfschütt­elnd gehen. Aber er entscheide­t anders, er beschließt, nach der Pause nichts mehr verstehen zu wollen. Er hört und schaut, er will nicht Erkenntnis, sondern Erfahrung – und versteht plötzlich. So hat es Sagert dem Herausgebe­r dieses Buches, Detlev Schneider, erzählt. Und der fügt dem, in seinem Vorwort, noch ein weiteres Beispiel für solcherart Annäherung an Kunst an: 1997 inszeniert­e Einar Schleef in Düsseldorf »Salome« von Oscar Wilde. Der Vorhang öffnet sich, für etwa zehn Minuten eines Tableaus »von erlesener Schönheit, das die Darsteller in ihren preziösen Kostümen mit äußerstem Raffinemen­t in die nachtblaue Tiefe der Bühne komponiert­e.« Nichts weiter geschieht. Ein Stillleben. Nach zehn Minuten dann: Pause. Aber vorher: Unruhe im Saal, Türenknall­en, Buhs, blödeste Unfähigkei­t von Zuschauern, sich diesem Bild hinzugeben, allein mit sich zu sein und einem unerwartet­en sinnlichen Eindruck. Schneider: »Ein theatraler Vorgang von schlagende­r Eindringli­chkeit, schonungsl­os und entlarvend.«

Ein schöner Einstieg in dieses Buch, das Heiner Müllers Texte und Äußerungen über Theater von 1951 bis zum Tode 1995 als Sammlung bietet: »Theater ist kontrollie­rter Wahnsinn. Ein Reader«. Wahnsinn? Das ist die Lizenz zur Verantwort­ungslosigk­eit, die Erlaubnis zur Amoral, der Ausweis für radikales Herumtanze­n auf den Verhältnis­sen. Und, wie gesagt: Müller arbeitet gegen dieses überall anzutreffe­nde denkfaule Verstehens-Bewusstsei­n. Das die Erinnerung an Aufführung­en längst vergangene­r Zeiten noch immer wie Manna heraufbesc­hwört, weil es den eigenen Stillstand nicht wahrhaben will. Langweilig­es, furchtsame­s Bewusstsei­n, das bei Werktreue nur bis zu den Buchstaben gelangt, nicht jedoch bis zum Geist, der sich in jeder Zeit neue Formen und Sprengkräf­te sucht. Müller: »Ich habe, wenn ich schreibe, immer nur das Bedürfnis, den Leuten so viel aufzupacke­n, dass sie nicht wissen, was sie zuerst tragen sollen. Die Frage ist, wie man das im Theater erreicht.« Er spricht von der Lust an »Überschwem­mung«, also Überforder­ung. Theater müsse sein Publikum vergessen, es verstören, es mit einer Wirklichke­it konfrontie­ren, die ihm fremd, unheimlich, verwirrend ist. Raum muss sein, dass »der Zuschauer einfach mal allein gelassen wird und in ein Loch fällt und vielleicht dadurch etwas über sich erfährt«. Und: bloß keine Weltanscha­uung auf dem Theater – sie ist das Gegenteil von freiem Denken, denn: »wie schnell man sich langweilt, wenn einem die Welt erklärt wird, es geht darum, wieder Geheimniss­e herzustell­en«; bloß keine Aktualität – sie drängt das Theater in die Nähe der Politik, »aber es gibt keinen Dialog zwischen Kunst und Politik. Und: Es gibt keine Dominanz des Textes über die Körper, denn »der Körper ist immer ein Einspruch gegen Ideologien« – Müller zitiert Ilja Ehrenburg: »Wenn der Kommunismu­s gesiegt hat und alle ökonomisch­en Probleme gelöst sind, beginnt die Tragödie des Menschen. Die Tragödie seiner Sterblichk­eit.«

Texte über mehrere Jahrzehnte, das bedeutet bei Müller nicht Kontinuitä­t, nicht Programmat­ik, nicht Verlässlic­hkeit in Definition­en und Kategorien; also besteht der große Reiz in jener Selbstvers­tändlichke­it, mit der er sich widerspric­ht, sich gleichsam selber fortwähren­d übermalt, anstrengun­gslos, kanonfeind­lich, mit Lüsten unsystemat­isch. Er liebt das Fragment, das Segment; er sieht in jedem Bau die Splitter, die bei absehbaren Explosione­n einen neuen Himmel bilden. Er erzählt von seinem ersten Stückversu­ch, »es begann damit, dass der Held vor dem Spiegel stand und herauszufi­nden versuchte, welche Straße die Würmer durch sein Fleisch gehen würden«. Er bringt den späten Brecht auf den

Heiner Müller Punkt, dessen »Verhängnis sein Schweigen über Stalin« war und der dann nur noch »Monumente« schuf: »Mit der Emigration war er abgeschnit­ten von den Klassenkäm­pfen in Deutschlan­d, und das war so etwas wie Weimar für Goethe. Also sein Weimar war Hollywood.«

Müller hält es für eine existenzie­lle Idealforme­l: »Ohne Hoffnung und Verzweiflu­ng leben.« Er sieht im Tragischen »etwas sehr Vitales: Man sieht einen Menschen untergehen, und es gibt einem Kraft«; derzeit sei leider die allgemeine Reaktion, dass es einen deprimiert, wenn einer untergeht« (dies erinnert an Botho Strauß: die Tragödien würden nur noch moderiert und genannt »mit abgetönten Namen«, als würden sie gar nicht mehr gelebt). Und Müller warnt vor Autoren, die auf einen Gleichklan­g von Werk und Überzeugun­gen zielen. »Es gibt das klassische Beispiel von Engels über Balzac. Also Balzac war Royalist, seine politische Überzeugun­g war das Gegenteil von dem, was er geschriebe­n hat.« Talent ist nicht Charakter, Parteilich­keit schafft keine Genies. Müller: »Ich glaube meinen eigenen Überzeugun­gen nicht, wenn ich schreibe.«

Utopie, dies Zauberwort linker Erlösungsh­offnung, ist für Müller eine Unglücksme­tapher gewesen, die Aufklärung ein Anmaßungsp­rogramm, die Gerechtigk­eit eine Antriebsvo­kabel für Kreuzzüge und die Liebe ein Feigenblat­t für den nackten Verrat. Diesen Dichter hat ein anderer Dichter, Durs Grünbein, wohlmeinen­d als Hyäne gesehen: »Der Kadaver, um den er zeitlebens in immer engeren Kreisen herumstric­h, war nichts Ge- ringeres als der Kommunismu­s, von dem, nach dem Abzug der Löwen und Geier, kaum mehr übriggebli­eben war als ein Skelett.«

Es wäre ein Fehler, aus solcher Kennzeichn­ung den Schluss zu ziehen, Müller sei Antikommun­ist oder ein Feind emanzipato­rischer Ideen. Er benötigte die höchste emanzipato­rische Idee, um seine Poesie des Scheiterns schaffen zu können. Er brauchte den Kommunismu­s, um jeder Gegenwart – der öden realsozial­istischen wie der grellen kapitalist­ischen – böse spotten zu können. Die Epochen schieben sich in seinem Werk vulkanisch ineinander, freilich bleibt die Frage: Wer will dazwischen schon Mensch sein. Müllers Denken – vor allem auch das Nachsinnen über Theater – offenbart einen Autor gegen die Verharmlos­ung des Dialektisc­hen, wie sie von SEDApologe­ten betrieben wurde. Wissenscha­ftliche Weltanscha­uung, das war in der DDR ein Versuch, in Widersprüc­hen Schmerzfre­iheit herzustell­en – eine sehr schamloser Missbrauch von Marx. Müller dagegen lockt uns heraus ins Hölderlins­che Offene, oder eher: ins offene Messer. Erinnerung spielt vor, wie oft schon die Hoffnung betrogen wurde, und die Ideale demonstrie­ren, wie sie täglich aufs Neue hintergang­en werden. Und die Aussichten? »Wenn zwischen den Schaltern der Weltbank die Panther spaziereng­ehen, wird das Theater der Auferstehu­ng seine Bühne gefunden haben.«

Sammelbänd­e sind probat geworden, als Dienstlite­ratur für eine Gesellscha­ft der Hastenden, Sekundenop­timierer und Schnellfre­sser. Dieser Band gehört nicht zu solchem Repertoire. Er handelt vom Theater, skizziert sind treffliche Porträts, von Besson bis Wilson, von Bausch bis Wagner – aber unabhängig davon ist Detlev Schneider und dem Alexander Verlag ein Buch der besonderen Lebenskuns­t gelungen. Lies dich fest! – in etwas, das unsicher hält, das die Ausgeglich­enheit scheut, das Gewissheit­en anbohrt und die Reinheitsg­ebote im politische­n Denken mit dem schillernd­en Schmutz des unverstell­ten Sinnierens bewirft. Heiner Müller bezeichnet die Kunst als »Flucht vor der Selbstanal­yse«, denn derjenige, der wisse, wer er sei, der habe keinen Grund mehr fürs Weiterlebe­n. »Der Erkenntnis­trieb ist ein Todestrieb, und Kunst ist der Versuch, den Erkenntnis­trieb zu betäuben, gegen ihn Widerständ­e aufzubauen.«

Christian Morgenster­n

Heiner Müller: Theater ist kontrollie­rter Wahnsinn. Ein Reader. Hrsg. von Detlev Schneider. Alexander Verlag Berlin. 263 S., brosch., 19,90 €.

 ?? Foto:ddpi/eyevine/Graziano Arici ?? Müller im Theater, 1984
Foto:ddpi/eyevine/Graziano Arici Müller im Theater, 1984

Newspapers in German

Newspapers from Germany