Bürgerdialog mit Bürgerbeteiligung
Unser heutiger Bericht beschäftigt sich mit einer neuen Maßnahme der Größten Koalition aller Zeiten, nämlich den Bürgerdialogen, in denen Kanzlerin Merkel und Vizekanzler Gabriel Gespräche mit Leuten führen, die sie noch nicht kennen, nämlich Bürgern, oder wie es in der Politik heißt: einfachen Bürgern. Früher nannte man sie den kleinen Mann auf der Straße, wovon sich aber Frauen nicht mit gemeint fühlten, oder die Leute draußen im Lande, was sich zu ländlich anhört in Zeiten von Globalisierung und Hauptstadt Berlin.
Wie man sich vielleicht erinnert, kommt dieses Konzept aus Nicaragua und wurde vor 30 Jahren von den Sandinisten unter der Bezeichnung »Mit dem Gesicht zum Volke« ausgeübt, unter selbigem Titel besungen von Liedermacher Gerhard Schöne.
Ob Gerhard Schöne auch den Bürgerdialog besingt, ist noch nicht bekannt. Allen Grund hätte er. Es kommt bereits vor, dass Bürger allein diskutieren, ohne Beteiligung politischer Spitzenkräfte, also nur über Politiker und nicht mit ihnen. Das heißt dann Stammtisch und ist nicht sonderlich gelitten, weil an Stammtischen die Meinungen von Stimmungen geprägt sind, und Stimmungen sind besonders an Stammtischen abhängig vom Alkoholkonsum. Die Politik wird daher sehr fröhlich betrachtet. Deshalb gibt es schon länger Versuche, politische Diskussionen mit dem Image solcher Geselligkeiten zu versehen, etwa mit einer Bezeichnung wie Grüner Stammtisch. Da man jedoch dort eher grüne Stammtischparolen erwartet, ist der Zuspruch geringer als bei bloßen Alkoholabenden.
Schon immer gab es Versuche von Machthabern oder Mandatsträgern, unmittelbar die Meinungen der Be- mächtigten oder Mandatsgeber zu erlauschen. Von manchem Sultan wird erzählt, er habe sich unerkannt unter das Volk gemischt. Nicht berichtet wird, ob er sehr enttäuscht darüber war, dass nicht er das Hauptthema der Gespräche war, ebensowenig, ob das Gehörte in seinen politischen Entscheidungsprozess eingeflossen ist.
Es ist Merkel und Gabriel zugutezuhalten, dass sie nicht eine Kommission einberufen haben, die sich unerkannt unter das Volk mischt, sondern dass sie selbst kommen. Aus den auf Vorrat gespeicherten Verbin- dungsdaten lassen sich leider keine Rückschlüsse auf verbreitete Ansichten ziehen, auch nicht aus Medien und schon gar nicht aus Wahlergebnissen oder Umfragen. Jetzt rächt sich, dass es keinen Apparat gibt, der sich hauptamtlich und informell mit Volksmeinungen befasst, um die Verbindung zwischen Volk und Regierung nicht abreißen zu lassen und Reformen vorzubereiten.
Es ist zu berücksichtigen, dass Merkel und Gabriel sich den Bürgergesprächen in ihrer knapp bemessenen Freizeit widmen. Es muss ihnen schon sehr viel daran liegen, die Regierten zu sprechen, für die es allerdings auch eine Freizeitbeschäftigung ist und die ansonsten zum größeren Teil einer regulären Erwerbstätigkeit nachgehen. Auch das macht sie für Politiker so interessant. Leute, die arbeiten, werden immer wieder gefragt: Und davon können sie leben?
Daraus ergibt sich indes die Frage, wie repräsentativ die Bürger überhaupt sein können. Schließlich haben Merkel und Gabriel es sich gar nicht zum Ziel gesetzt, alle Bürger zu sprechen, nicht einmal die gesamten 50 Prozent, die nicht als Beamte oder Beauftragte oder Intendanten im Dienste des Staates stehen. Wen repräsentieren die Bürger also? Das Volk jedenfalls nicht, das tun ja schon die Abgeordneten. Im Gegensatz zu den Volksvertretern unterliegen die Bürger keinem Fraktionszwang, weshalb sie demokratisch legitimierte Äußerungen gar nicht tätigen dürfen. Merkel und Gabriel begeben sich somit in eine Grauzone des Rechtsstaates. Sie können zwar in ihren Reden vor dem Bundestag oder im Talk sagen: »Die Menschen sagen mir immer wieder ...«, nicht aber, falls sie das jemals vorgehabt hätten, das Gehörte beim Regierungshandeln berücksichtigen.