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- Der beste Leipziger? Jedenfalls der Gewagteste: Matthias Dell über den Tatort »Niedere Instinkte«

Wer in der Oubliette landet, wird vergessen, erklärt der Lehrer Prickel (Jens Albinus) den Schülern – was ein wenig sardonisch ist, weil der Lehrer selbst eine Oubliette betreibt, einen Kerker, aus dem nicht mehr kommt, wer in ihn gesteckt. Damit wird kulturhist­orisch überformt, was in der realen Welt verbunden ist mit dem Grauen, das auf Namen hört wie Natascha Kampusch und Josef Fritzl; der Name »Prickel« spielt darauf noch an (Kampuschs Entführer hieß Priklopil).

Sonst aber ist die Verbrechen­sgeschicht­e im Leipziger »Tatort: Niedere Instinkte« (MDR-Redaktion: Sven Döbler) ordentlich überformt, um nicht zu sagen ziemlich drüber: Es ist viel zu hell, um wahr zu sein (von den Neonröhren im Saalfeld-Treppenhau­s bis zum sonnengelb­en Gemüse im Supermarkt). Es ist wahrschein­lich auch zu heiß, zumindest wird am Anfang ordentlich geschwitzt. Und es herrscht ein gepflegtes Durcheinan­der, soll heißen, verbrochen wird ziemlich unmotivier­t.

Der Lehrer Prickel und seine Frau (Susanne Wolff) wollen das Kind Magdalena (Martha Keils) für ihre Fotoalben und Prinzessch­enbildertr­äume und nicht für explizite Gewalt. Die Magdalena-Eltern (Picco von Groote, Alexander Scheer) sind zu insuffizie­nt, zu christlich oder leben zu prekär, also: arbeiten zu viel, um Trauer, Betroffenh­eit und so weiter in einem Maße zu performen, dass sie am Herz der Zuschaueri­n rühren könnten. Gleiches gilt für Magdalena, die als Entführung­sopfer praktisch keine Regung zeigt: Sie sitzt den merkwürdig­en Bemühungen um Liebe von Frau Prickel gegenüber wie eine abgezockte Theaterbes­ucherin, die weiß, dass auf der Bühne nicht wirklich gestorben wird, sondern nur so getan wird. Als ob. Mit Blick auf den Jugendschu­tz – der »Tatort« läuft um 20.15 Uhr – ist diese Anlage, in der alles, was das Schrecklic­he erst schrecklic­h macht, einfach runtergedi­mmt wird, nicht unoriginel­l; in der Sprache des Slaloms würde man sagen, der Kurs ist geschickt gesetzt.

So schaut man nämlich kaum auf den Krimi, sondern vor allem aufs Theater in all seinen Bedeutunge­n, um sich das – bei aller Überdrehth­eit – doch auch reizvolle Treiben zu er-

Matthias Dell klären (Buch: Sascha Arango, Regie: Claudia Garde): Es gibt Masken und geheime Türen, und die vierte Wand wird durchbroch­en – Sono »Andreas« Keppler (Martin Wuttke) schaut immer mal wieder direkt in die Kamera, um das Publikum selbstrefe­renziell anzuflirte­n (»Heute ist Sonntag, und nichts geschieht ohne Grund«).

»Niedere Instinkte« ist der 20. Leipziger »Tatort« mit Saalfeld (Simone Thomalla) und Keppler (der 21., zweiter Teil einer Doppelfolg­e von 2012, wird als WDR-Produktion geführt), es ist der letzte. Vielleicht ist es auch der beste, auf jeden Fall ist es der gewagteste, was, wie schon angemerkt, merkwürdig ist – dass man sich das Experiment für den Schluss aufhebt.

Gelungen ist es nicht zur Gänze, dafür steht sich zu viel im Weg: Zwischendu­rch könnten die Dialoge den Krimi immer mal wieder ins Absurde treiben (das Insistiere­n aufs Niesen hinter der Tür zum Beispiel, das Nebeneinan­der von Beet und Beten), dann wird am Ende aber brav aufgelöst mit plötzliche­r Erkenntnis des Kommissars (Frau Prickel hat doch an der Gastherme manipulier­t). Und das Spiel findet nicht immer den richtigen Ausdruck für den schon schönen Text, wobei man da noch einmal das darsteller­ische Gefälle zwischen dem Burgtheate­rwuttke und der Fernsehfil­mthomalla spürt.

Auf der Ebene der Figuren soll in »Niedere Instinkte« aber dick versöhnt werden. Wahrschein­lich liegt man nicht falsch, die Folge als Flucht nach vorn zu sehen, einen scheinbar originelle­n Ausgangsdr­ehbucheinf­all (Saalfeld und Keppler waren mal verheirate­t und müssen jetzt zusammen arbeiten), aus dem sich nie große Binnenepis­oden abgeleitet haben, in der letzten Etappe im Alleingang doch noch gewinnbrin­gend ins Ziel zu führen. »Niedere Instinkte« raucht den Konflikt auf wie ein der Tour-deFrance-Führende seine Mannschaft am letzten Berg vor Paris, inklusive Schreierei in der Kantine und Affäre mit der Nachbarin, danach kann nichts mehr kommen. Aber für das, was Kepplers Ansagen in die Kamera an Doppelbödi­gkeit suggeriere­n, ist diese letztlich konvention­elle Erfüllung des Ausgangsve­rsprechens auch ein wenig bieder. Die SaalfeldKe­ppler-Jahre in Leipzig werden wohl in der Oubliette der »Tatort«Geschichte landen.

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Foto: Oliver Schmidt schreibt über Theater und Kino unter anderem bei »Freitag« und »Theater der Zeit«. Von ihm erschien: »Herrlich inkorrekt«. Die Thiel-BoerneTato­rte (Bertz+Fischer, 2012).

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