Mittelschwaebische Nachrichten
„Diese Bilder von damals verlassen einen nie“
Vor fünf Jahren erschoss David S. neun Menschen im Münchner Einkaufszentrum OEZ. Drei Männer, die an diesem Abend vor Ort waren, erzählen von ihren Erlebnissen und wie die Erinnerung an den Schrecken sie heute noch bewegt
München Neun Gesichter, in Schwarz-Weiß fotografiert, blicken von dem Rundbogen herab. Wie ein Schmuckstück trägt das ringförmige Denkmal ihre Bilder und Namen, wie eine Gravur steht daneben: „In Erinnerung an alle Opfer des rassistischen Attentats vom 22.7.2016“. Der Tag, an dem der 18-jährige David S. am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München neun Menschen erschießt und die gesamte Stadt in Angst und Schrecken versetzt, bevor er sich selbst tötet.
Oliver Timper kommt heute nur selten am OEZ vorbei. Doch wenn er es tut, ist es ihm wichtig, vor dem Denkmal stehen zu bleiben und innezuhalten, in Erinnerung an die Opfer. „Ich denke viel an die Angehörigen. Und frage mich: Wenn es uns als Polizisten und Polizistinnen schon schwerfällt, damit abzuschließen: Wie schwer muss es erst für die Familien und Freunde der Verstorbenen sein?“
Der Münchner Polizist war damals, an diesem schrecklichen Abend vor fünf Jahren, vor Ort, kurz nachdem der Täter in dem Einkaufszentrum um sich geschossen hatte. Die Eindrücke stürzten förmlich auf ihn ein, erzählt er heute. Schwer bewaffnete Kollegen und Kolleginnen, die die Umgebung absuchten. Menschentrauben an den Absperrungen. Patronenhülsen auf dem Gehsteig. Nur wenige Informationen darüber, was passiert ist, waren zu diesem Zeitpunkt bekannt, viele Fragen unbeantwortet. Wie viele Tote gibt es? Was hat es mit den Gerüchten über weitere Täter auf sich? Wie groß ist die Gefahr für die Bevölkerung? Als Timper an einem der Opfer vorbeigeht, das abgedeckt ist, kommt ihm in den Sinn: Das hätte auch eine meiner Töchter sein können. Ein erschreckender Gedanke, den er und viele seiner Kollegen und Kolleginnen nie im Leben vergessen werden, wie er sagt.
Timper gehörte nicht zu den Einsatzkräften, die nach den ersten Notrufen unmittelbar zum OEZ geschickt wurden. Doch als Pressesprecher stand er am Tatort in engem Austausch mit den Kollegen und Kolleginnen in der ersten Reihe. „Deshalb spreche ich stellvertretend für sie. Wir wollen sie schützen, damit, wenn sie von diesem Abend erzählen würden, nicht alles wieder aufbricht.“Vor allem viele jüngere Kollegen und Kolleginnen hätte der Einsatz belastet. „Einer
mir, es gibt immer noch Nächte, da schreckt er aus dem Schlaf hoch. Diese Bilder von damals verlassen einen nie.“
Auch Timper hat so einen Moment, an den er sich heute noch besonders eindrücklich erinnert: Es ist eines der ersten Statements, die er
an diesem Abend gibt, kurz nachdem ein Video, das die Tat zeigt, im Internet kursiert. „Es war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt, wer die Opfer waren, die Angehörigen waren nicht verständigt. Und ich dachte daran, wie schrecklich es wäre, wenn sie über ein Video erfaherzählte
● Das Motiv Lange Zeit gingen die Behörden von einem Amoklauf, ei nem Racheakt wegen Mobbings aus. Erst 2018 stufte das Bundesamt für Justiz die Tat aufgrund der rechtsra dikalen Gesinnung von David S. als extremistisch ein.
● Die Erinnerung Zur Gedenkfeier am 22. Juli 2017 wurde vor dem OEZ das Mahnmal „Für Euch“für die Opfer des Attentats eingeweiht. Es ist ein Edelstahlring, der einen Ginkgo Baum umschließt. Auf der Innenseite befinden sich die Namen und Porträts der Opfer. (mahei)
ren, dass ihre Liebsten nicht mehr nach Hause kommen werden.“
Von einem solchen Moment, den er bis heute nicht vergessen kann, erzählt auch Klaus Hartwig aus dem Landkreis Aichach-Friedberg, der in Pasing als Berufsfeuermann arbeitet. Als er von den Schüssen im
OEZ erfährt, ist er eigentlich nicht im Dienst, sondern hat frei. Doch im Laufe des Abends fährt er dann doch auf seine Wache. „Ich habe mir Sorgen um meine Schicht gemacht, vor allem um die jüngeren Kollegen“, erzählt er. „Bitte komm“, fleht ihn einer von ihnen an, als sich auf der Wache hunderte Einsatzkräfte sammeln, die aus dem Umland angefordert worden waren.
Hartwigs Schichtkollegen waren zuvor bereits ausgerückt. Denn im OEZ war während des Attentats ein Feuermelder ausgelöst worden, die Einsatzkräfte dachten allerdings, sie rücken wegen eines Feueralarms aus – und hatten zunächst keine Ahnung, was wirklich passiert war, erzählt Hartwig. „Das war total einschneidend, als das Löschfahrzeug zurückkam. Ein älterer, erfahrener Kollege stieg aus – diesen geschockten und betroffenen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen.“
Die Betroffenheit, die Unsicherheit, der Schock – auch für Ludwig Waldinger, Pressesprecher am Bayerischen Landeskriminalamt, kommen viele bedrückende Erinnerungen hoch, wenn er erzählt, was er am Abend des 22. Juli erlebt hat. Auch er spricht zum Schutz der Beamten und Beamtinnen stellvertretend für die Ermittler des LKA. „Ich hatte Angst, als ich in die Stadt gefahren bin und die ersten Meldungen im Radio gehört habe.“Er selbst fuhr nicht zum Tatort, sondern direkt zum Präsidium in der Innenstadt, um dort zu helfen. „Unsere wichtigste Aufgabe war es, Informationen auszuwerten und die Menschen in München zu schützen. Das Sicherheitsgefühl war von den vielen Gerüchten und Falschmeldungen in den sozialen Netzwerken völlig zerstört worden.“Erst nach Mitternacht, als feststand, dass es nur ein Täter war, fiel zum ersten Mal ein Stück der Anspannung von Waldinger ab. Kurz darauf fuhr er zum OEZ. „Das war mir ein Bedürfnis, ich wollte vor Ort sein“, erzählt er. „Aus professioneller Sicht war dieser Abend vorerst abgearbeitet. Aber menschlich gesehen kamen viele Gefühle in mir hoch – und ich wollte sehen, dass dieser Schrecken tatsächlich vorbei ist.“
Wenn an diesem Donnerstag Familien und Freunde der Opfer an dem Denkmal vor dem OEZ zusammenkommen und der Verstorbenen gedenken, wird auch Ludwig Waldinger unter ihnen sein und Anteilnahme zeigen. „Das ist mir ein wichtiges persönliches Anliegen“, sagt er. „Denn mir kommt es gar nicht so vor, als sind schon fünf Jahre seither vergangen. Ich habe alles noch so genau vor Augen, als wären es erst drei oder vier Tage.“
„Das hätte auch eine meiner Töchter sein können“