Mittelschwaebische Nachrichten
Das Problem mit den CoronaZahlen
Was gerade erlaubt ist und was nicht, hängt von den Infektionszahlen ab. Doch nicht immer sind die Werte aussagekräftig. Woran das liegt und ob man sich von der Inzidenz lösen müsste
Augsburg
Das, was früher einmal der tägliche Blick auf den Wetterbericht war, ist heute die Beobachtung der Inzidenzwerte. Wenn man so will, dann zeigen die Zahlen, ob eher ein laues Lüftchen weht oder doch ein schwerer Sturm aufzieht. Doch diese Werte, die die Pandemie in eine Art Zahlenkorsett kleiden, sind auch anfällig für Ungereimtheiten.
Markus Söder gilt als großer Verfechter des Inzidenz-Prinzips. „Es gibt keinen Anlass, vom System der Inzidenzen abzukehren. Dies wäre ein Blindflug mit erheblichstem Gefahrenpotenzial“, sagte der bayerische Ministerpräsident unlängst, als die dritte Welle Fahrt aufnahm.
In Bayern hängt viel von diesen Inzidenzwerten ab. Etwa, ob Kinder in die Klassenzimmer dürfen. Ob Geschäfte Click&Meet anbieten können oder ob es nächtliche Ausgangsbeschränkungen gibt. Doch das Problem ist: Noch immer gibt es nach Wochenenden keine zuverlässigen Zahlen, das Bild ist regelmäßig verzerrt. Woran liegt das? Am Meldeweg? Oder wird in den Gesundheitsämtern und Laboren am Wochenende nicht gearbeitet?
Dr. Uta-Maria Kastner, Leiterin des Dillinger Gesundheitsamtes, ärgert sich über solche Vorwürfe. Im Kreis Dillingen und in fast allen Gesundheitsämtern in Schwaben würden alle Meldungen täglich erfasst und weitergemeldet. „Es gibt deshalb keinen Meldeverzug bei den täglichen Zahlen“, sagt sie. „Wir sind seit Beginn der Pandemie auch an Wochenenden besetzt und hatten nur im Sommer eine kurze Pause.“
Für die Abweichungen der Zahlen nennt Kastner einen anderen Grund: Es werde am Wochenende einfach weniger getestet, da die Hausarztpraxen geschlossen seien und die Testzentren reduzierte Öffnungszeiten hätten. „Auch nehmen kranke Personen am Wochenende das Angebot von Testungen weniger wahr und warten lieber, bis sie am Montag zum Hausarzt gehen können.“Gerade weil von den Zahlen so viel abhänge, werde ja auch ein Inzidenzwert, der über drei Tage stabil bleibt, als Maß für weitere Maßnahmen genommen, erklärt die Medizinerin. Das Münchner Gesundheitsamt – ebenfalls sieben Tage pro Woche im Einsatz – erfasst die Zahlen normalerweise am Nachmittag und meldet diese laut einer Sprecherin umgehend weiter. Diskrepanzen könnten sich aus später erfassten Zahlen ergeben, die erst in der Inzidenz des darauffolgenden Tages berücksichtigt werden.
Laut Infektionsschutzgesetz müssen Covid-19-Fälle vom zuständigen Gesundheitsamt spätestens am nächsten Arbeitstag elektronisch an die zuständige Landesbehörde und von dort spätestens am nächsten Ar
an das Robert Koch-Institut übermittelt werden, erklärt eine Sprecherin des bayerischen Gesundheitsministeriums. Durch diesen Meldeweg könnten sich die Zahlen in den Übersichten der Gesundheitsämter von denen des Landesamtes für Gesundheit und des Robert-Koch-Instituts „für die einzelnen Meldetage unterscheiden und dort rückwirkend gegebenenfalls noch erhöhen“. Schwankungen bei den tagesaktuellen Meldungen würden aber dadurch aufgefangen, dass der maßgebliche Inzidenzwert die Fälle der letzten sieben Tage pro 100000 Einwohner abbildet. „Es handelt sich also um die aufsummierten Fälle, die im Verlauf dieser sieben Tage durch die Gesundheitsämter gemeldet wurden.“
Eine Sprecherin des bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) ergänzt: „Aufgrund der nach wie vor hohen Fallzahlen können – auch aufgrund unterschiedlicher Aktualisierungszeitpunkte der Webseiten und der Veröffentlichung unterschiedlicher Datenstände – temporär Abweichungen auftreten.“Es sei auch nicht gänzlich auszuschließen, dass eine korrekte Übertragung der Daten aus technischen Gründen verhindert werde.
Fabian Mehring, Landtagsabgeordneter der Freien Wähler, geht es gar nicht so sehr um Meldeprozesse, sondern darum, dass der Inzidenzwert oft als alleinige Kennzahl hergenommen wird: „Ich halte es für falsch, dass man alle Öffnungsperspektiven nur daran koppelt.“Denn der Wert schwanke eben mit der Anzahl der Tests und verliere mit zunehmenden Impfungen auch an Aussagekraft. „Wenn ich weiß, dass die Zahl oft ungenau ist, kann ich doch nicht die ganze Lebenswirklichkeit daran festmachen.“Die Ausrichtung der Politik am Inzidenzwert habe überdies noch ein anderes Problem: „Wenn er drei Tage über 100 liegt, müssen die Geschäfte schließen. Liegt er dann drei Tage knapp unter 100, dürfen sie wieder öffnen. Die Händler werfen uns zu Recht eine mangelnde Planbarkeit vor“, sagt Mehring, der sich für eine „gewichtete Risikoinzidenz“ausspricht. Der Inzidenzwert ist dabei nur ein Faktor neben anderen, etwa der Positivrate der Tests, dem R-Wert, der Belastung des Gesundheitssystems, der Impfquote und der Sterberate. Wie fragil das Inzidenz-Konstrukt ist, zeige sich auch aktuell, sagt der Abgeordnete: „Der Wert geht leicht zurück, aber dass es wirklich eine Entspannung gibt, wird angezweifelt – eben weil jetzt weniger getestet wurde.“
Auch das LGL verweist darauf, dass bei der Interpretation der Fallzahlen rund um die Ostertage zu beachten sei, dass weniger Personen einen Arzt aufsuchten, wodurch auch weniger Proben genommen und weniger Laboruntersuchungen durchgeführt worden seien. „Dies führt dazu, dass weniger Erregerbeitstag
Kritik an Konzentration auf Inzidenzwerte